Gemälde, das einen starken Kontrast zwischen Armut und Reichtum zeigt. Im Vordergrund feiern elegant gekleidete Menschen in einem luxuriösen Restaurant mit Champagner und Meeresfrüchten. Ein Mann fotografiert eine Frau am Tisch. Durch die großen, teils gesprungenen Fensterscheiben im Hintergrund blicken hungrige, arm gekleidete Männer, Frauen und Kinder von der Straße herein, einige mit ihren Händen an der Scheibe.

Ich sitze im Zug und scrolle durch Instagram. Hochkant natürlich, wie es sich gehört, wie es das Format verlangt, wie es mittlerweile zur zweiten Natur geworden ist. Mein Daumen wischt von unten nach oben, Bild für Bild, Story für Story, Reel für Reel. Ein schmaler vertikaler Ausschnitt Wirklichkeit nach dem anderen. Champagner. Sunset. Workout. Frühstück. Strand. Meeting. Alles schön säuberlich getrennt, jedes in seinem eigenen Rahmen, jedes für sich perfekt inszeniert.

Und plötzlich wird mir klar: Ich sehe die Welt nur noch hochkant.

Das ist nicht metaphorisch gemeint, sondern ganz konkret formal. Das Panorama ist verschwunden. Der breite Blick, der mehrere Dinge gleichzeitig erfassen kann, der Zusammenhänge sichtbar macht, der zeigt, was nebeneinander existiert – er ist weg. Ersetzt durch einen schmalen vertikalen Streifen, der immer nur eine Perspektive zeigt. Nie zwei gleichzeitig.

Die Scheibe ist gebrochen

Stell dir vor, du stehst vor einer großen Panoramascheibe. Links siehst du ein Luxusrestaurant, Menschen in Abendgarderobe, die Champagner trinken und Austern essen, während sie ihre Teller für Instagram fotografieren. Rechts, auf der anderen Seite derselben Scheibe, drücken sich Obdachlose gegen das Glas, Kinder mit hohlen Augen, verwahrloste Senioren. Beide Welten sind durch dieselbe Scheibe getrennt, aber du siehst sie gleichzeitig. Du kannst nicht wegschauen. Die Scheibe zeigt Risse.

Das ist das horizontale Format. Das Kino-Format. Das Format der Gleichzeitigkeit.

Jetzt dreh dein Smartphone um neunzig Grad.

Plötzlich siehst du nur noch eine Hälfte. Entweder die Champagner-Trinker oder die Obdachlosen. Nie beide zusammen. Du musst scrollen, um zur anderen Seite zu kommen. Und während du scrollst, verschwindet die erste Hälfte bereits wieder aus deinem Bewusstsein. Die Scheibe ist nicht mehr sichtbar. Die Risse sind verschwunden. Es gibt keine Verbindung mehr zwischen den beiden Welten.

Das ist das Hochformat. Das ist Social Media.

Oben und Unten statt Nebeneinander

Hochkant bedeutet nicht nur schmal. Es bedeutet hierarchisch. Oben und unten, nicht nebeneinander. Im horizontalen Format existieren Dinge simultan, gleichberechtigt im Raum verteilt. Im vertikalen Format gibt es eine Reihenfolge. Etwas ist oben, etwas ist unten. Und was unten ist, muss man erst scrollen, um es zu sehen.

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Der Algorithmus entscheidet, was oben ist.

Die perfekt inszenierten Luxus-Posts ranken besser als die unbequemen Wahrheiten. Die Champagner-Fotos bekommen mehr Engagement als die Bilder von Obdachlosigkeit. Also landen sie oben im Feed. Die anderen? Die sind da unten, irgendwo, wo niemand hinscrollt. Unsichtbar gemacht nicht durch Zensur, sondern durch Format und Algorithmus.

Das Hochformat reproduziert Hierarchien nicht nur inhaltlich, sondern strukturell.

Die Bubble als zerbrochene Scheibe

Die Risse in der Scheibe – das ist der Algorithmus. Er hat die Panoramascheibe längst zersplitert in tausend kleine Einzelscheiben, jede für ihre eigene Bubble. Du siehst nur noch, was auf deiner Seite der Scheibe passiert. Die anderen Seiten? Existieren für dich nicht mehr.

Früher stand ich vor der Panoramascheibe und sah beide Welten gleichzeitig. Heute stehe ich in meiner Bubble und sehe nur noch meine eigene Reflexion.

Die Champagner-Trinker scrollen durch Champagner-Content. Die Aktivisten durch Aktivismus. Niemand sieht mehr die ganze Scheibe. Niemand sieht mehr die Risse. Und genau deshalb werden die Risse größer und größer, ohne dass es jemand bemerkt.

Vertikales Denken

Was macht das mit unserem Denken, wenn wir die Welt nur noch hochkant sehen?

Wir verlieren die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen. Ursache und Wirkung existieren nicht im selben Frame. Der Luxus und die Armut teilen sich nicht mehr dieselbe Scheibe. Sie sind getrennt, isoliert, ohne sichtbare Verbindung. Du siehst das eine oder das andere, aber nie, dass das eine mit dem anderen zu tun hat.

Ich scrolle durch Instagram und sehe einen Post über ein Fünf-Sterne-Dinner. Drei Wischer weiter ein Post über Obdachlosigkeit. Aber in meinem Kopf bleiben sie getrennt. Zwei verschiedene Themen, zwei verschiedene Frames, keine Verbindung. Die Gleichzeitigkeit ist verschwunden.

Das Hochformat verhindert nicht nur, dass wir zwei Dinge gleichzeitig sehen. Es verhindert, dass wir verstehen, dass sie miteinander verbunden sind.

Instagram als Fenster ohne Panorama

Instagram verkauft sich als Fenster zur Welt. Aber es ist ein verdammt schmales Fenster. Ein Schlitz, durch den ich immer nur einen winzigen Ausschnitt sehe. Und dieser Ausschnitt wird kuratiert, gefiltert, algorithmisch sortiert. Ich sehe nicht die Welt, wie sie ist. Ich sehe die Welt, wie sie hochkant passt.

Die Scheibe zwischen Luxus und Armut? Auf Instagram gibt es sie nicht. Es gibt Luxus-Accounts und Charity-Accounts. Aber niemand postet beides im selben Bild. Das würde die Ästhetik stören. Das würde nicht zum Feed passen. Das würde zu viele unbequeme Fragen aufwerfen.

Also bleibt alles schön getrennt. Jeder in seiner Bubble, jeder in seinem vertikalen Schlitz, niemand sieht das Panorama.

Die Risse werden größer

Das Problem ist: Die Scheibe existiert immer noch. Auch wenn wir sie nicht mehr sehen. Auch wenn das Hochformat sie aus dem Blick drängt. Die beiden Welten existieren immer noch nebeneinander, getrennt durch dieselbe gläserne Grenze.

Und die Risse werden größer.

Während die einen ihre Austern fotografieren und die anderen draußen erfrieren, breitet sich das Spinnennetz der Sprünge immer weiter aus. Aber niemand sieht es, weil niemand mehr das ganze Bild im Blick hat. Wir scrollen von einem Fragment zum nächsten und verpassen dabei, dass die Scheibe kurz vor dem Zerbrechen steht.

Hochkant statt breit. Vertikal statt horizontal. Isoliert statt simultan.

So sieht die Welt aus, wenn Social Media den Blickwinkel bestimmt.

Zurück zum Panorama

Ich lehne mich im Zug zurück und schaue aus dem Fenster. Ein echtes Fenster, horizontal, breit. Ich sehe Felder und Häuser und Straßen gleichzeitig. Ich sehe, wie alles miteinander verbunden ist. Kein Algorithmus entscheidet, was ich sehe. Keine Timeline fragmentiert die Wirklichkeit.

Vielleicht sollten wir öfter aus echten Fenstern schauen.

Vielleicht sollten wir das Smartphone öfter um neunzig Grad drehen.

Vielleicht sollten wir wieder lernen, Dinge gleichzeitig zu sehen, statt sie nacheinander zu scrollen.

Die Scheibe existiert noch. Die Risse auch. Aber um sie zu sehen, müssen wir den Blickwinkel ändern.

Von hochkant zurück zu breit.

Vom Fragment zurück zum Panorama.

Vom isolierten Post zurück zum Zusammenhang.

Sonst werden wir nicht bemerken, wenn die Scheibe zerbricht.

Passend dazu der Text Karl.

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