Die Zahlen der deutschen Werbeindustrie erzählen eine interessante Geschichte. 30,9 Milliarden Euro flossen 2024 in digitales Marketing. Eine beeindruckende Summe. Die Prognosen zeigen eine jährliche Wachstumsrate von 7,87 Prozent für Programmatic Advertising in Deutschland bis 2035. Global liegt diese Rate bei über 22 Prozent.

Ist der DACH-Markt etwa im Rückwärtsgang?

Nein. Ganz im Gegenteil. Was auf den ersten Blick wie Stagnation aussieht, ist in Wahrheit etwas viel Interessanteres: Reife. Und diese Reife ist der Ausgangspunkt für eine fundamentale Neuerfindung.

Die Widersprüchlichkeit des reifen Marktes

Deutschland, Österreich und die Schweiz haben die erste Phase der Programmatic-Evolution bereits abgeschlossen. Was ich mal Programmatic 1.0 nenne – die flächendeckende Automatisierung von Display-Werbung, die auf Third-Party-Cookies basiert – ist hier längst Standard. Niemand diskutiert mehr darüber, ob man programmatisch einkaufen soll. Die Frage ist nur noch: wie und wo.

Die niedrigere Wachstumsrate im Vergleich zum globalen Markt ist kein Zeichen von Schwäche. Sie ist das logische Resultat eines Marktes, der bereits dort angekommen ist, wo andere noch hinwollen. Das aggressive globale Wachstum von über 22 Prozent wird von Märkten getrieben, die Programmatic gerade erst großflächig einführen. Im DACH-Raum ist das Spiel ein anderes.

Hier geht es nicht mehr um die Implementierung der Grundlagen. Hier geht es um die Erschließung neuer, hochmargiger und datenreicher Kanäle. Willkommen in der Programmatic 2.0-Ära.

Die GDPR als unfreiwilliger Innovationstreiber

Ich muss zugeben: Als die Datenschutz-Grundverordnung kam, dachte ich zunächst, das würde die Branche lähmen. Alle jammerten über Compliance, Cookie-Banner und rechtliche Unsicherheit. Und ja, es war kompliziert. Es ist immer noch kompliziert.

Aber die GDPR hatte einen unbeabsichtigten Nebeneffekt: Sie zwang die Branche zur Innovation. Während andere Märkte noch entspannt mit Third-Party-Cookies hantierten, mussten europäische AdTech-Unternehmen früh umdenken. Datenschutzkonforme First-Party-Strategien wurden nicht optional – sie wurden überlebenswichtig.

Diese regulatorische Strenge hat den DACH-Raum zu einem Vorreiter gemacht. Nicht trotz der strengen Regulierung, sondern wegen ihr. Die AdTech-Branche erwartet heute klare gesetzliche Rahmenbedingungen: die Implementierung von Richtlinien aus dem Digital Services Act, die Klärung von «Consent or Pay»-Praktiken, die erwartete Ausarbeitung eines Digital Advertising Act. Diese juristischen Herausforderungen zwingen die Akteure, robustere, datenschutzkonforme Technologien zu entwickeln, was die Innovation im Bereich der Adressierbarkeit vorantreibt.

Retail Media: Der Kanal, der alles verändert

Retail Media macht mittlerweile über ein Fünftel der weltweiten Werbeausgaben aus. Das ist gewaltig. Und die Zahlen werden weiter steigen. Aber hier ist das Problem: Die meisten Retail-Media-Netzwerke funktionieren noch wie proprietäre Silos. Jeder Retailer hat seine eigene Self-Serve-Plattform, seine eigenen Regeln, seine eigene Datenstruktur.

Das ist ineffizient. Und genau hier setzt Programmatic 2.0 an.

Die Forschung zeigt: 96 Prozent der Marken und Agenturen wären offen dafür, On-Site-Retail-Media über eine DSP einzukaufen. Und 80 Prozent würden bei DSP-Zugang signifikant mehr Budget verlagern. Das Signal ist eindeutig: Die Branche will Standardisierung, will Automatisierung, will Effizienz.

In Deutschland sehen wir diese Entwicklung exemplarisch bei der Otto Group. Deren E-Commerce-Umsätze sanken im Geschäftsjahr 2023/24 um etwa 9 Prozent auf knapp 10,8 Milliarden Euro. Das ist kein Pappenstiel. Und genau dieser Umsatzdruck verstärkt die strategische Bedeutung alternativer Erlösquellen. Retail Media wird für solche Player nicht optional bleiben. Es wird zur Notwendigkeit.

Der Bundesverband Digitale Wirtschaft hat bereits ein detailliertes Framework veröffentlicht, das digitales Instore Advertising innerhalb physischer Ladengeschäfte strukturiert. Sieben Marktteilnehmer-Kategorien, von Einzelhändlern bis zu Netzwerkvermarktern. Die technologische Infrastruktur erfordert Content Management Systeme, Ad Server und Supply-Side Platforms, um die programmatische Integration zu ermöglichen. Die Retail-SSP fungiert dabei als entscheidendes Bindeglied, da sie den Schutz von First-Party-Daten, SKU-Level-Targeting und die Einhaltung händlerspezifischer Auktionsregeln gewährleistet.

Programmatic Retail Media stellt den strategischen Ankerpunkt für Programmatic 2.0 dar, da es die Adressierbarkeitsprobleme der Post-Cookie-Ära umgeht und Werbung direkt mit tiefgreifenden Kaufdaten verknüpft.

Advanced TV: Die ungenutzte Goldmine

Hier wird es spannend. Connected TV hat in den USA eine Ad-View-Penetration von 85 Prozent erreicht. In Europa? 46 Prozent. Diese Diskrepanz ist enorm. Und sie bedeutet: Da liegt massives, ungenutztes Potenzial. Dieses Delta von 39 Prozentpunkten repräsentiert das größte ungenutzte Budgetpotenzial für Programmatic 2.0.

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Aber warum nutzt Europa dieses Potenzial nicht? Die Antwort ist ernüchternd simpel: Es fehlt an standardisierter Messung. In den USA gibt es mit Nielsen eine zentrale, harmonisierte Messmethode für TV und digitale Reichweite. In Europa? Fragmentierung. Jedes Land, jede Plattform, jeder Broadcaster hat seine eigenen Messstandards.

Das ist Gift für Advertiser. Niemand investiert massiv in einen Kanal, wenn er nicht verlässlich messen kann, ob die Kampagne funktioniert hat.

Die Digitalisierung des Fernsehens ist im DACH-Markt eine Notwendigkeit, da die Reichweite und Nutzungsdauer des linearen TV, insbesondere in jüngeren Zielgruppen zwischen 14 und 49 Jahren, unaufhaltsam zurückgehen. Gleichzeitig bleibt das TV-Gerät das beliebteste Endgerät für den Konsum von Streaming-Inhalten – mehr als 60 Prozent der Deutschen streamen regelmäßig.

In Deutschland wird Advanced TV hauptsächlich über Addressable TV realisiert, welches den HbbTV-Standard nutzt, um zielgruppenspezifische Werbung während linearer TV-Programme auf internetfähigen Geräten auszuspielen. Anbieter wie EURODSP ermöglichen durch die Verknüpfung von TV-Haushaltsdaten mit digitalen Datenprofilen eine präzise Identifikation der Zielgruppe und eine maßgeschneiderte Werbeauslieferung. Dies führt zu einer positiveren Nutzererfahrung und erhöhter Akzeptanz von Werbung, da irrelevant erscheinende Anzeigen reduziert werden. HbbTV fördert dabei ein offenes, datengesteuertes Ökosystem, das nicht von geschlossenen Walled Gardens kontrolliert wird.

Die technische Infrastruktur für programmatisches CTV existiert. Was fehlt, ist die Harmonisierung der Metriken. Hier liegt die nächste große Herausforderung für die Branche. Und gleichzeitig die nächste große Chance.

Programmatic Digital Out-of-Home: Der etablierte Außenseiter

Während andere Kanäle noch um ihre programmatische Zukunft ringen, hat sich ein Segment im DACH-Raum bereits fest etabliert: Programmatic Digital Out-of-Home. 2023 generierte pDOOH in Deutschland 226 Millionen Euro Werbeumsatz. Das ist nicht wenig für einen Kanal, der noch vor wenigen Jahren als Nische galt.

In Deutschland generierte DOOH im Jahr 2023 insgesamt 454 Millionen Euro Werbeeinnahmen, wovon bereits 226 Millionen Euro – also fast 50 Prozent – programmatisch gehandelt wurden. Diese hohe Penetrationsrate beweist, dass Programmatic in Deutschland in diesem Segment längst zum Status quo in den Mediaplänen avanciert ist.

DOOH hat einen entscheidenden Vorteil: Die Standorte sind fix, die Technologie ist kontrollierbar, die Messung ist relativ eindeutig. Es ist ein physischer Kanal mit digitaler Technologie – und genau diese Kombination macht ihn so programmatisch-freundlich. Die erfolgreiche Automatisierung des OOH-Inventars unterstreicht die Fähigkeit des DACH-Marktes, hochkomplexe, standortbasierte Kanäle effizient zu skalieren.

Die europäische Antwort auf die Identity-Krise

Kommen wir zur Identity-Frage. Third-Party-Cookies sterben. Safari und Firefox haben sie bereits eliminiert, Chrome zögert noch, aber die Richtung ist klar. Die Frage ist: Was kommt danach?

Global setzen viele auf Lösungen wie LiveRamp oder UID 2.0. Im DACH-Raum gibt es lokale Alternativen, die ich für strategisch überlegen halte.

Die Notwendigkeit einer stabilen Adressierbarkeit jenseits des Third-Party-Cookies hat zur Etablierung robuster europäischer Lösungen geführt. Anbieter wie NetID positionieren sich als effektive Cookie-Ersätze. Durchgeführte Testfälle demonstrierten, dass Nutzer, die in Browsern mit strengem Third-Party-Cookie-Blocking wie Safari und Firefox nicht mehr adressierbar waren, durch europäische Identifier weiterhin mit allen gewünschten Targeting-Merkmalen erreicht werden konnten.

Die Stärke dieser Lösungen liegt in der tiefen Integration in die lokale AdTech-Infrastruktur. Deutsche AdTech-Spezialisten wie Yieldlab und ADITION technologies nutzen den Virtual Minds Tech Stack, um europäische Identity-Lösungen ohne Einschränkungen in den programmatischen Prozess zu integrieren. Diese sogenannte Any-ID Readiness ist essenziell, um Publishern, Vermarktern und der Werbeindustrie eine zukunftssichere Technologieinfrastruktur zu bieten, die programmatisches Marketing und Kundenkommunikation in der Post-Cookie-Ära sichert.

Darüber hinaus expandiert die Wirksamkeit dieser Lösungen in neue programmatische Kanäle: Kooperationen im digitalen Audio-Markt ermöglichen es Radiosendern, datenschutzkonforme, geräteübergreifende und personalisierte Werbekampagnen in ihrem Audio-Inventar anzubieten.

Europäische Identity-Lösungen sind nicht nur Alternativen zu globalen Identity Graphs – sie sind überlegene, zukunftssichere Ansätze im Hinblick auf regulatorische Anforderungen. Sie verschaffen lokalen Publishern eine höhere User-Match-Rate in restriktiven Browser-Umgebungen und gewährleisten die Monetarisierung unabhängig von den Adressierbarkeitsstrategien der US-Tech-Giganten.

Das ist digitale Souveränität. Und sie wird zum Wettbewerbsvorteil.

Die dunkle Seite: Transparenz und Medienqualität

Ich wäre nicht ehrlich, wenn ich nicht auch über die Schattenseiten sprechen würde. Denn die gibt es. Und sie sind nicht trivial.

Die größte Investitionsbarriere im europäischen Programmatic-Markt? Medienqualität. 31 Prozent der Advertiser und 41 Prozent der Agenturen nennen Qualitätsprobleme als Top-Barriere. Ad Fraud, Brand Safety, Viewability – die üblichen Verdächtigen.

Das strukturelle Problem dahinter ist die finanzielle Intransparenz in der programmatischen Lieferkette. Agenturen arbeiten oft mit undurchsichtigen Kostenmodellen. Bei transparenten Modellen wird typischerweise ein fester Prozentsatz – sagen wir 10 Prozent – als Agenturgebühr ausgewiesen. Plattform- und Datengebühren werden an den Kunden weitergegeben.

Bei undurchsichtigen Modellen? Da werden die Plattform- und Datengebühren innerhalb der Agenturmarge versteckt. Die tatsächliche Marge kann dann deutlich höher ausfallen. Viel, viel höher.

Diese mangelnde Transparenz hat direkte Auswirkungen auf die Medienqualität. Hohe, versteckte Margen in der Mitte der Supply Chain reduzieren die Mittel, die tatsächlich beim Publisher ankommen. Das erhöht die Anfälligkeit für minderwertige Werbeplätze und Ad Fraud.

Programmatic 2.0 muss diese Intransparenz beenden. Nicht aus moralischen Gründen – obwohl die auch gelten – sondern aus praktischen. Ohne finanzielle Integrität wird die Buy Side das Vertrauen nicht vollständig zurückgewinnen. Hohe, undurchsichtige Margen in der Mitte der Supply Chain reduzieren effektiv die Mittel, die tatsächlich für den Ankauf von hochwertigem Inventar beim Publisher zur Verfügung stehen. Dies erhöht die Anfälligkeit des Systems für minderwertige Werbeplätze und Ad Fraud.

Die strategische Neuausrichtung: Was jetzt zu tun ist

Die Marktreife von Programmatic 1.0 bedeutet nicht das Ende des Wachstums. Sie bedeutet nur, dass die Art des Wachstums sich verändert hat. Das zukünftige Wachstum im DACH-Raum wird hochselektiv sein und muss aus der erfolgreichen Erschließung neuer, noch unterpenetrierter Kanäle wie Retail Media und Connected TV generiert werden, um die stabile Rate von 7,87 Prozent signifikant zu übertreffen.

Für Advertiser und Agenturen

Die strategische Ausrichtung im DACH-Markt muss sich auf die Nutzung der neuen, wachstumsstarken Kanäle konzentrieren, um die Grenzen der gesättigten Programmatic 1.0-Kanäle zu überwinden.

Erstens: Budgets aktiv von gesättigten Display-Kanälen in Premium-Segmente verlagern. Retail Media durch Netzwerke wie die Otto Group. Addressable TV, sobald die Messproblematik gelöst ist. pDOOH, das bereits funktioniert. Diese Kanäle bieten First-Party-Daten-basierte Adressierbarkeit. Und genau das ist im Post-Cookie-Umfeld entscheidend.

Zweitens: Die Buy Side muss von Agenturen die Umstellung auf vollständig transparente, auditable Service-Gebührenmodelle fordern. Gleichzeitig ist die aktive Forcierung der Supply Path Optimization notwendig, um die Hauptbarriere der Medienqualität zu minimieren und sicherzustellen, dass mehr des Mediabudgets beim Publisher ankommt.

Drittens: Der Einsatz und die Investition in europäische, datenschutzkonforme Identity-Lösungen müssen priorisiert werden, um die langfristige Adressierbarkeit von Zielgruppen zu gewährleisten und die Unabhängigkeit von den Adressierbarkeitsstrategien globaler Walled Gardens zu sichern.

Für Publisher und Retailer

Der Erfolg von Programmatic 2.0 hängt maßgeblich davon ab, wie schnell und effizient Premium-Inventar für die Automatisierung bereitgestellt wird.

Industrialisierung von Retail-Media-Netzwerken ist keine Option mehr, sondern Pflicht. Retailer, die über wertvolle First-Party-Daten verfügen, müssen ihre Retail-Media-Netzwerke professionalisieren. Dies erfordert die sofortige Integration von Retail-SSPs, um den Schutz von First-Party-Daten zu gewährleisten und gleichzeitig die programmatische Skalierbarkeit für Werbetreibende zu ermöglichen.

Broadcaster und AdTech-Firmen müssen eine Brancheninitiative starten, um die harmonisierte, holistische Reichweitenmessung im Advanced TV zu standardisieren. Nur durch die Bereitstellung einer einheitlichen, verlässlichen Messgrundlage kann das immense ungenutzte Budgetpotenzial, das durch die Differenz der CTV-Ad-View-Penetration zwischen Europa und den USA signalisiert wird, freigesetzt werden.

Fazit: Europa führt, aber die Arbeit ist nicht getan

Programmatic Advertising im DACH-Markt hat sich neu erfunden. Die Reise von der massiven, aber ineffizienten Display-Automatisierung hin zur hochqualitativen, First-Party-Daten-gesteuerten Adressierbarkeit in Premium-Kanälen ist im Gange.

Der Fokus liegt auf drei Säulen: Erstens, die Sicherstellung der Adressierbarkeit durch den Einsatz europäischer Identity-Lösungen. Zweitens, die Skalierung datenreicher Kanäle wie Retail Media und Advanced TV. Drittens, die aktive Bekämpfung von Intransparenz in der Lieferkette.

Diese Programmatic 2.0-Ära ist durch lokale, datenschutzkonforme Infrastrukturen gekennzeichnet. Sie bietet DACH-Unternehmen die Möglichkeit, nicht nur globale Innovationen zu adaptieren, sondern in Bereichen wie pDOOH, Retail-Media-Strukturierung und datenschutzkonforme Identity-Lösungen eine Führungsrolle einzunehmen.

Die niedrigere Wachstumsrate ist kein Warnsignal. Sie ist ein Zeichen von Reife. Und diese Reife ist die Grundlage für qualitatives, nachhaltiges Wachstum. Die strategische Notwendigkeit zur Erfindung von Programmatic 2.0 resultiert direkt aus dieser Reife.

Programmatic Advertising ist nicht tot. Es hat sich in Europa neu erfunden. Und ehrlich gesagt: Die europäische Version könnte am Ende die bessere sein.

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