Jan Clement hatte sich ein System zurechtgelegt. Morgens Zahlen, nachmittags Menschen. Die Vormittage verbrachte er im provisorischen Büro, das ihm der Pfarrer im Gemeindehaus zur Verfügung gestellt hatte – ein stickiger Raum voller verstaubter Aktenordner und dem schwachen Geruch von Bohnerwachs. Die Nachmittage nutzte er für das, was er „Feldforschung” nannte.
„Sie wollen wirklich mit allen sprechen?”, hatte Pfarrer Höhler gefragt, als Jan ihm seinen Plan vorstellte. Der rundliche Mann saß hinter seinem Schreibtisch wie ein gutmütiger Buddha, die Hände über dem Bauch gefaltet.
„Mit möglichst vielen”, antwortete Jan. „Zahlen erzählen nur die halbe Geschichte.”
Höhler lächelte. „Das hätte ich von einem Unternehmensberater nicht erwartet.”
„Ich bin kein gewöhnlicher Unternehmensberater.”
„Und wir sind keine gewöhnliche Gemeinde.” Höhler stand auf und ging zum Fenster. „Wissen Sie, Herr Clement, diese Kirche steht seit 1723. Sie hat Kriege überstanden, Revolutionen, zwei Diktaturen. Und jetzt soll sie an Excel-Tabellen scheitern?”
Jan schwieg. Er kannte diese Argumente. Geschichte, Tradition, Identität – alles wichtig, alles richtig. Aber Sentimentalität zahlte keine Rechnungen.
Am Dienstagnachmittag traf er Frau Bergmann, 78 Jahre alt, seit ihrer Firmung in Sankt Vincent. Sie wohnte in einem kleinen Haus am Ortsrand, der Garten penibel gepflegt, die Fenster mit weißen Spitzengardinen verhängt.
„Meine Eltern haben hier geheiratet”, erzählte sie ihm bei Kaffee und selbstgebackenem Streuselkuchen. „Ich wurde hier getauft, gefirmt, getraut. Meine drei Kinder auch. Und mein Mann…” Sie stockte. „Seine Beerdigung war letztes Jahr. Pfarrer Höhler hat so schöne Worte gefunden.”
„Gehen Sie oft in die Kirche?”
„Jeden Sonntag. Auch wenn’s schwerer wird mit den Knien.” Sie lächelte. „Aber die Elsa, die hilft mir immer die Stufen hoch. Ein Engel, diese Frau. Passt ja auch zum Namen.”
Jan notierte sich das – und ärgerte sich über sich selbst. Was hatte Elsa Engel mit seiner Analyse zu tun?
Am Mittwoch begleitete er den Pfarrer zum Seniorennachmittag. Zwanzig ältere Menschen saßen im Gemeindesaal bei Kaffee und Kuchen, spielten Karten oder hörten einem Vortrag über Kräuterkunde zu. Jan bewegte sich zwischen den Tischen, stellte vorsichtige Fragen, hörte zu.
„Ohne die Gemeinde wäre ich verloren”, sagte ein Mann namens Walter. „Seit meine Frau tot ist, ist das hier meine Familie.”
„Die jungen Leute kommen nicht mehr”, klagte eine Frau am Nachbartisch. „Meine Enkelkinder gehen lieber zu den Evangelischen. Da gibt’s Filmabende und so modernes Zeug.”
Jan machte sich Notizen. Die Gemeinde erfüllte eindeutig eine soziale Funktion, besonders für ältere Menschen. Aber war das genug, um ein Gebäude dieser Größe zu rechtfertigen?
Am Donnerstagabend geschah etwas Unerwartetes. Jan saß gerade in seinem Hotelzimmer und wertete Gemeindestatistiken aus, als sein Handy klingelte. Eine unbekannte Nummer.
„Clement.”
„Herr Clement? Elsa Engel hier. Störe ich?”
Jan richtete sich unwillkürlich auf. „Nein, überhaupt nicht.”
„Ich wollte mich für meinen kühlen Empfang am Sonntag entschuldigen. Das war unprofessionell.”
„Schon vergessen.”
„Trotzdem.” Eine kurze Pause. „Ich dachte, vielleicht sollten wir mal in Ruhe reden. Über die Gemeinde, meine ich. Ich könnte Ihnen eine andere Perspektive zeigen.”
„Das wäre hilfreich.”
„Morgen Abend? Ich kenne ein nettes Restaurant. Nichts Besonderes, aber das Essen ist gut.”
Jan zögerte. War das eine berufliche Einladung oder…? „Gerne. Wo?”
„Das ‚Otto’ in der Hauptstraße. Sagen wir, acht Uhr?”
Nach dem Gespräch starrte Jan noch lange auf sein Handy. Dann stand er auf und ging ins Bad. Im Spiegel sah er einen Mann Anfang vierzig, der plötzlich unsicher wirkte. Wann hatte er sich zuletzt Gedanken über ein Abendessen gemacht?
Das „Otto” entpuppte sich als gemütliches Restaurant mit dunklen Holzmöbeln und gedämpftem Licht. Elsa wartete bereits an einem Ecktisch. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid, das ihre Figur betonte, ohne aufdringlich zu wirken. Als sie ihn sah, lächelte sie – und Jan spürte wieder dieses merkwürdige Flattern in der Magengegend.
„Danke, dass Sie gekommen sind”, sagte sie, als er sich setzte.
„Danke für die Einladung.”
Der Kellner brachte die Karte. „Das Fleisch hier ist hervorragend”, empfahl Elsa. „Ich bin ein hoffnungsloser Carnivore.”
„Ich auch.” Jan lächelte. „Was trinken Sie dazu?”
„Gin Tonic. Immer.” Sie zwinkerte. „Manche halten das für unpassend zu Steak, aber ich war noch nie gut darin, Erwartungen zu erfüllen.”
Sie bestellten – beide das Filetsteak, beide Gin Tonic – und Jan fragte sich, wann er zuletzt so entspannt mit einer Frau am Tisch gesessen hatte.
„Also”, begann Elsa, nachdem der Kellner gegangen war. „Sie wollen unsere Gemeinde verstehen. Was haben Sie bisher gelernt?”
„Dass die Menschen hier mehr verlieren würden als nur ein Gebäude.”
Sie nickte anerkennend. „Das ist ein Anfang. Aber es geht um mehr. Diese Gemeinde ist ein Ökosystem. Alles hängt mit allem zusammen. Die Seniorennachmittage, die Jugendgruppe – ja, wir haben eine, auch wenn sie klein ist –, die Caritas-Arbeit, die Trauernden-Begleitung…”
„Vieles davon ließe sich auch ohne dieses große Gebäude organisieren.”
„Theoretisch, ja.” Elsa nippte an ihrem Gin Tonic. „Aber Menschen sind keine Theorien. Sie brauchen Orte. Heilige Orte. Orte, die größer sind als sie selbst.”
„Glauben Sie das wirklich? Oder sagen Sie das, weil es Ihr Job ist?”
Sie lachte – ein helles, überraschendes Lachen. „Gute Frage. Wissen Sie was? Manchmal bin ich mir selbst nicht sicher. Ich liebe meinen Beruf, aber…” Sie stockte.
„Aber?”
„Vergessen Sie’s. Das gehört nicht hierher.”
Das Essen kam, und sie wechselten zu leichteren Themen. Jan erfuhr, dass Elsa aus Frankfurt stammte, dass sie Sportschützin war – „Bitte keine Psychoanalyse deswegen” – und dass sie eine Schwäche für alte Filme hatte.
„Und Sie?”, fragte sie. „Wollten Sie schon immer Gemeinden auf ihre Wirtschaftlichkeit prüfen?”
„Ich wollte mal Philosoph werden”, gestand Jan. „Aber dann siegte der Pragmatismus.”
„Philosophie und BWL – interessante Kombination.”
„Nützlicher, als man denkt. Beide Disziplinen suchen nach Wahrheit. Nur die Methoden unterscheiden sich.”
„Und was ist Ihre Wahrheit über unsere Gemeinde?”
Jan legte Messer und Gabel beiseite. „Ehrlich?”
„Immer.”
„Die Zahlen sprechen gegen Sie. Die Demografie auch. In zehn Jahren wird hier kaum noch jemand in die Kirche gehen.”
Elsa nickte langsam. „Ich weiß.”
„Aber?”
„Aber vielleicht geht es nicht ums Überleben, wie es war. Vielleicht geht es um Transformation.”
„Was meinen Sie?”
Sie beugte sich vor, und Jan roch ihr Parfüm – etwas Komplexes, Verführerisches. „Die Kirche muss sich neu erfinden. Nicht die Botschaft, aber die Form. Wir könnten so viel mehr sein als nur ein Ort für Sonntagsgottesdienste.”
„Zum Beispiel?”
„Ein Gemeindezentrum. Ein Ort der Begegnung. Konzerte, Lesungen, Sozialarbeit. Die Kirche als Herz des Ortes, nicht als Museum.”
Jan war fasziniert. Diese Frau dachte nicht in Kategorien von Erhalt oder Aufgabe. Sie dachte in Möglichkeiten.
„Warum erzählen Sie mir das?”, fragte er.
„Weil ich glaube, dass Sie kein gewöhnlicher Berater sind. Weil ich in Ihren Augen etwas sehe, was nicht in Ihre Rolle passt.”
„Was denn?”
„Zweifel.”
Die Rechnung kam, und Jan bestand darauf zu zahlen. „Geschäftsessen”, sagte er, und Elsa lächelte.
Draußen war es mild, die Hauptstraße fast menschenleer. Sie gingen langsam nebeneinander her, ohne ein bestimmtes Ziel.
„Ich habe heute etwas gemacht, was ich nie tue”, sagte Elsa plötzlich.
„Was denn?”
„Einen Mann angerufen und zum Essen eingeladen.”
„Bereuen Sie es?”
Sie blieb stehen und sah ihn an. Diese topasblauen Augen im Licht der Straßenlaternen. „Fragen Sie mich das morgen nochmal.”
Sie verabschiedeten sich an der nächsten Ecke. Kein Händeschütteln diesmal, nur ein Lächeln und ein „Gute Nacht”.
Jan ging zurück zum Hotel, aber schlafen konnte er nicht. Er dachte an Elsa, an ihre Vision, an die Art, wie sie „Transformation” gesagt hatte. Und er dachte an ihre Frage: Was war seine Wahrheit über diese Gemeinde?
Am nächsten Morgen fand er eine WhatsApp von ihr: „Ich bereue es nicht. E.”
Jan starrte auf die Nachricht und spürte, wie sich etwas in ihm verschob. Er war hierhergekommen, um eine Gemeinde zu bewerten. Stattdessen hatte er eine Frau getroffen, die ihn zwang, seine eigenen Bewertungsmaßstäbe zu hinterfragen.
Er öffnete seinen Laptop und begann einen neuen Absatz in seinem Bericht: „Die Gemeinde zeigt Potenzial für innovative Nutzungskonzepte…”
Dann löschte er alles und schrieb stattdessen: „Die Situation ist komplexer als ursprünglich angenommen.”
Das war sie wirklich. Und Jan ahnte, dass es noch komplexer werden würde.
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