November 16, 2023

Ist Ihre Tochter ein Pick-me-Girl?

Sie können die Frage nicht zweifelsfrei beantworten, weil der Begriff des Pick-me-Girls Ihnen nichts sagt. Dann gibt es den Erklärungsansatz auf Basis der Ärzteserie “Grey’s Anatomy”. Meredith, eine der Hauptdarstellerinnen, will erreichen, dass sich Derek (McDreamy) für sie entscheidet. Ihr Appell “Nimm mich, wähl mich, lieb mich!” endet im echten Serienleben kompliziert und in der Soziologie des Internets in der neuen Kategorie von Frauen, die sich mit aller Gewalt „pickable“ für einen Mann machen wollen.

Die weitere Definition, die sich bei der F.A.Z. findet, lautet: „Unter dem Begriff ‘Pick-me-Girls’ werden Frauen verstanden, die sich mit aller Mühe abheben wollen, um die Anerkennung von Männern zu gewinnen. Ein ‘Pick-me-Girl’ äußert demonstrative Verachtung gegenüber stereotypen weiblichen Interessen wie Shopping, Schminken und Schlankheitswahn, präsentiert sich in jeder Lebenssituation als ausgesprochen unkompliziert und äußert den ganzen Tag Sätze wie: ‘Am wohlsten fühle ich mich einfach in Männerrunden.“

Dies vorausgeschickt, möchte ich Sie auf das nächste Gespräch mit Ihren menstruierenden Haushaltsangehörigen unter 30 vorbereiten und erzählen, worum es in Sophie Passmanns fünftem Buch geht und warum dieses zwar eine ziemliche selbstreflexionistische Lobhudelei auf ihr eigenes bisheriges Leben ist, aber für junge Frauen durchaus ein ernstzunehmendes Buch einer Social-Media-Ikone ihrer Generation ist. Es zu kennen, könnte also dazu beitragen, Ihren Stellenwert innerhalb der Familie zu steigern und ihre Position als alter weißer Mann in den Grundfesten zu erschüttern.

Nun aber weg von der Begründung, warum “Pick-me-Girls” lesenswert ist, aber bei Männern der Altersklasse 40+ befremdliche Fremdscham auslösen kann.

Es geht hauptsächlich um Sophie Passmann

Im Vorfeld zu diesem Beitrag hatte ich einer Freundin den ersten Entwurf gemailt und wurde zurecht dafür kritisiert, dass es mehr um Sophie Passmann ging als um das Buch. Dabei ist es schwierig über “Pick-me-Girl” zu schreiben, ohne über Passmann zu schreiben, denn am liebsten nutzt sie in ihrem Buch das Wort “ich”. Es ist ein Buch von Passmann über Passmann und somit eine Art Autobiografie der frühen Tage, die bei ihrem kindlichen Ich beginnen und sich irgendwo im neulichen Hier und Jetzt verlieren. Eine gewisse Schwammigkeit haftet dem Buch an, was aber nicht wunderlich ist, denn Sophie Passmann wurde 1994 geboren und ist damit ein Sandwichkind der beiden meistbesprochenen Generationen in diesen Tagen. Zwischen den Generationen Z und Y schwimmend, säuft sie deshalb in der eigenen Definitionssuppe manchmal etwas ab, um sich dann wieder an einem Z festklammernd an die Oberfläche zu kämpfen und uns weiter mit auf ihre Reise durch ein von Essstörungen geprägtes Leben zu nehmen. Von Vorbildern auf Social-Media-Kanälen, die Anorexie feiern und gefeiert werden. Von ihren Diäten und den Selbstzweifeln am eigenen Körper.

Hilfestellungen darf die lesende Person sich an diesen Stellen wünschen, aber das Buch ist keine Selbsthilfebibel. Es springt zwischen Erklärungen für eigenes selbstzerstörendes Verhalten und Schuldzuweisungen an die patriarchale Gesellschaft für eben dieses hin und her und versucht dabei launig damit umzugehen, dass die Ich-Protagonistin sich in denkbar merkwürdiger Manier mit Frauen vergleicht, die öfter als sie sexuell belästigt werden, und auf diesen Zustand neidisch herabsieht und für sich selbst eine höhere Belästigungsquote wünscht, weil dies ein Indiz für Attraktivität, in ihren jungen Augen, sei.

Gebotoxte Weiblichkeit, gezwungenes Kumpelinsein, der schmerzhafte Weg des sich selbst Findens und nicht von Männern gefunden werden sowie ihre eigenen Ableitungen aus dieser jugendlichen Melange aus toxischem Gedankengut ergeben am Ende kein gutes Buch, aber eines, bei dem es sich lohnt, nachdenklich mitgelesen zu haben.

Besser kein Erfolg auf einem kranken Fundament

Als Vater, Onkel, Pate oder Freund ist dieses Buch eine gute Basis, um zu verstehen, was in den Köpfen von Töchtern, Nichten, Patenkindern oder auch allgemein jungen Frauen und Mädchen herumschwirrt und wo wir als Vorbilder im echten Leben und nicht auf einer Bühne im Internet helfen können, Orientierung geben und darauf hinweisen können, dass auch “Pick-me-Girl” nur ein Buch einer Prominenten ist, die es gut verstanden hat, aus ihren eigenen toxischen Lebenserfahrungen Kapital zu schlagen. Wir können nur hoffen, dass unsere Kinder (auch die nicht menstruierenden) mit ihren Sorgen und Nöten zu uns oder anderen Vertrauten kommen und nicht im Internet hängen bleiben und am Ende Buchautorinnen und Moderatorinnen werden, aber eine offenbar traumatische Kindheit und Jugend hatten und auf diesem kranken Fundament „erfolgreich“ sind.”

Sophie Passmann dankt in ihrem Buch allen Männern die Bücher von Frauen lesen und auch ihr Buch lesen. Dank an Sophie Passmann zurück für dieses erhellende Buch, diesmal leider ohne Lesebändchen.

Bild: Shutterstock

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