Kapitel Eins aus Band Eins der Erlebnisse von Elsa Engel und dem Unternehmensberater Jan.
Vorwort
Es gibt Orte, die halten uns fest, ohne dass wir es bemerken. Manchmal sind es die Straßen unserer Kindheit, manchmal ein Café, in dem wir uns zum ersten Mal verliebt haben. Und manchmal sind es Kirchengebäude – diese steinernen Zeugen einer Zeit, in der Glaube noch selbstverständlich war. Ich denke an die kleine Kirche in Lütterbach, deren Glocken noch immer täglich um sechs Uhr abends läuten. An die Menschen, die sich jeden Sonntag in den Holzbänken versammeln, obwohl sie wissen, dass ihre Zahl schrumpft. An die Kerzen, die flackern, auch wenn die Zweifel größer werden als die Gewissheiten. Was passiert, wenn solche Orte verschwinden sollen? Wenn Effizienz wichtiger wird als Tradition, wenn Zahlen entscheiden, was bleibt und was geht? Und was geschieht mit den Menschen, die plötzlich merken, dass sie mehr verlieren als nur ein Gebäude – nämlich ein Stück ihrer Identität? Diese Geschichte handelt von Jan Clement, einem Mann, der Zahlen lesen kann wie andere Menschen Gedichte. Er kommt nach Lütterbach, um zu prüfen, zu bewerten, zu entscheiden. Was er nicht erwartet: dass er dort Elsa Engel begegnet, einer Frau, die ihm zeigt, dass manche Dinge sich nicht in Excel-Tabellen erfassen lassen. Es ist eine Geschichte über die Spannung zwischen dem, was vernünftig ist, und dem, was das Herz braucht. Über Menschen, die zwischen alten Strukturen und neuen Möglichkeiten nach ihrem Weg suchen. Und über die Erkenntnis, dass manchmal das Wichtigste nicht in Stein gemeißelt ist, sondern sich nur dann zeigt, wenn wir bereit sind, unsere eigenen Mauern einzureißen. Kirchen können geschlossen werden. Herzen öffnen sich von selbst. Dies ist eine Geschichte über beides.
Kapitel 1: Unerwartete Begegnung
Jan Clement hatte sich das anders vorgestellt. Einfacher. Klarer. Zahlen lügen nicht, pflegte er zu sagen, und Gemeinden sind am Ende nur Unternehmen mit ungewöhnlichem Geschäftszweck. Ein paar Wochen vor Ort, ein gründlicher Blick in die Bücher, ein sachlicher Bericht – und weiter zum nächsten Projekt.
Jetzt saß er in seinem Mietwagen vor der Kirche Sankt Vincent in Lütterbach und fragte sich, warum er plötzlich zögerte. Das Gebäude war schön, das musste er zugeben. Dunkler Sandstein, der in der Morgensonne warm leuchtete, zwei Türme, die stolz in den Himmel ragten. Aber schön war kein Argument für Wirtschaftlichkeit.
Er stieg aus und ging über das Kopfsteinpflaster des kleinen Kirchplatzes. Die Glocken läuteten gerade – es war kurz vor zehn, Zeit für den Sonntagsgottesdienst. Ein paar ältere Menschen strömten durch das schwere Holzportal, grüßten einander auf die vertraute Art kleiner Ortschaften. Jan folgte ihnen.
Innen war es kühler als erwartet. Das Licht fiel durch bunte Glasfenster und malte Muster auf die alten Steinplatten. Die Kirche war nicht voll – bei weitem nicht. Vielleicht vierzig Menschen verteilten sich auf Bänke, die für zweihundert gebaut waren. Jan setzte sich in die letzte Reihe und zog sein Smartphone heraus, um sich Notizen zu machen. Auslastung: zwanzig Prozent, höchstens.
„Liebe Gemeinde”, begann eine Frauenstimme vom Altar, „ich begrüße Sie herzlich zu unserem Wortgottesdienst.”
Jan blickte auf und erstarrte.
Die Frau, die dort stand, passte nicht in sein Bild einer Gemeindereferentin. Sie war Ende dreißig, schätzte er, schlank, mit einer Eleganz, die auch in Jeans und weißer Bluse unübersehbar war. Ihr schwarzes Haar fiel in sanften Wellen bis zu den Schultern, und als sie lächelte, blitzten Augen auf, die ihm den Atem nahmen. Topasblaue Augen, wie er sie noch nie gesehen hatte.
„Wir beginnen mit dem Lied ‚Großer Gott, wir loben dich'”, sagte sie, und ihre Stimme hatte eine Wärme, die den ganzen Raum zu füllen schien.
Jan vergaß sein Smartphone. Er vergaß seine Notizen. Er vergaß sogar, warum er hier war, und hörte nur zu, wie diese Frau mit einer Selbstverständlichkeit sprach, die ihm das Herz schneller schlagen ließ. Sie zitierte nicht nur aus der Bibel – sie erzählte davon, als wäre sie dabei gewesen. Als sie über die Emmausgeschichte sprach, über zwei Menschen, die Jesus nicht erkannten, obwohl er direkt neben ihnen ging, schaute sie direkt in Jans Richtung.
„Manchmal”, sagte sie, „sehen wir das Wichtigste nicht, weil wir zu beschäftigt sind mit dem, was wir für wichtig halten.”
Nach dem Gottesdienst wartete Jan am Ausgang. Die meisten Gemeindemitglieder kannten sich offensichtlich gut – man blieb stehen, tauschte Neuigkeiten aus, lachte miteinander. Die Gemeindereferentin verabschiedete jeden persönlich, kannte Namen, fragte nach Enkelkindern und kranken Angehörigen.
„Sie sind neu hier”, sagte sie schließlich zu Jan. Es war keine Frage.
„Jan Clement.” Er streckte ihr die Hand hin. „Ich bin… geschäftlich hier.”
„Elsa Engel.” Ihre Hand war warm und überraschend fest. „Was für Geschäfte bringen Sie denn nach Lütterbach? Wir sind nicht gerade ein Wirtschaftszentrum.”
Jan zögerte. „Ich arbeite für das Bistum. Organisationsberatung.”
Etwas veränderte sich in ihrem Gesicht. Das warme Lächeln wurde kühler, vorsichtiger. „Ach so. Sie sind also der Mann, der uns bewerten soll.”
„Ich soll die Situation analysieren und Empfehlungen aussprechen. Nichts weiter.”
„Nichts weiter.” Sie wiederholte seine Worte mit einem Unterton, den er nicht deuten konnte. „Und was ist Ihr erster Eindruck? Sind wir effizient genug für Ihre Standards?”
Jan spürte, wie sich zwischen ihnen eine Mauer aufbaute, und das ärgerte ihn. „Ich beurteile keine Menschen, Frau Engel. Ich schaue mir Zahlen an.”
„Menschen sind auch Zahlen. Zumindest in Ihren Berichten.” Sie wandte sich ab, dann drehte sie sich noch einmal um. „Falls Sie wirklich verstehen wollen, was hier passiert, schauen Sie nicht nur in Ihre Akten. Sprechen Sie mit den Leuten. Lernen Sie sie kennen.”
„Das tue ich immer.”
„Gut.” Zum ersten Mal seit seinem Namen lächelte sie wieder. „Dann sehen wir uns bestimmt noch.”
Jan sah ihr nach, wie sie über den Kirchplatz ging. Ihr Gang war selbstbewusst, fast federnd, und er bemerkte, wie sich die Menschen, denen sie begegnete, zu ihr wandten wie Blumen zur Sonne.
Er stieg in seinen Wagen und fuhr ins Hotel. Unterwegs dachte er an ihre Worte, an ihre Augen, an die Art, wie sie „Manchmal sehen wir das Wichtigste nicht” gesagt hatte. Als hätte sie direkt zu ihm gesprochen.
In seinem Hotelzimmer öffnete er den Laptop und begann seinen ersten Bericht. „Gemeinde Sankt Vincent, Lütterbach. Auslastung Sonntagsgottesdienst: circa 20%. Durchschnittsalter der Teilnehmer: geschätzt 65 Jahre. Gemeindereferentin: kompetent, engagiert, bei den Gemeindemitgliedern offensichtlich sehr beliebt.”
Er starrte auf den letzten Satz. Löschte ihn. Schrieb ihn wieder. Löschte ihn erneut.
Dann klappte er den Laptop zu und ging zum Fenster. Irgendwo da draußen, in diesem verschlafenen Ort, war eine Frau mit topasblauen Augen, die ihm etwas gezeigt hatte, was er nicht hatte messen können. Etwas, das in keinem seiner Berichte stand.
Zum ersten Mal seit langem war Jan Clement unsicher, ob Zahlen wirklich die ganze Wahrheit erzählten.
Morgen geht es weiter mit dem zweiten Kapitel…..
Zwei Welten
Jan Clement hatte sich ein System zurechtgelegt. Morgens Zahlen, nachmittags Menschen. Die Vormittage verbrachte er im provisorischen Büro, das ihm der Pfarrer im Gemeindehaus zur Verfügung gestellt hatte – ein stickiger Raum voller verstaubter Aktenordner und dem schwachen Geruch von Bohnerwachs. Die Nachmittage nutzte er für das, was er „Feldforschung” nannte…..
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