
Liebe Leserinnen und Leser,
wann habt ihr den letzten Brief komplett selbst geschrieben oder eine E-Mail komplett ohne Mithilfe von KI versendet? Öfter als mancher, der sich auf LinkedIn rühmt, alles nur noch mit seinen fantastischen Effizienzagenten umzusetzen, hoffe ich.
Die KI und manches unterstützende Küchenhilfegerät machen uns das Leben vermeintlich leichter. Nur ist es wirklich so, dass es mit dem Thermomix und der KI immer alles flotter von der Hand geht, oder es schlicht den Eindruck macht, dass es so ist.
In dieser Ausgabe geht es um Vergesslichkeit im Alltag. Es geht nicht um die MIT-Studie, die besagt, durch KI würden wir alle dümmer (was ich nicht glaube, aber darüber unterhalten wir uns dann ein anderes Mal).
Warum wir Gefahr laufen, Dinge zu vergessen, wenn uns Koch-/Schreib-/Denkagenten dabei helfen, den Alltag zu meistern.
Kochen ist eine Disziplin, die bei mir im Kopf stattfindet. In der Schublade in meinem Gehirn, auf der Essen steht, sind die Rezepte der Gerichte, die ich öfter koche, fest eingebrannt, und dazu kommen dann noch die diversen Variationen, die sich durch fehlende Zutaten oder andere Umstände ergeben haben. Bei Gerichten, die ich das erste Mal zubereite, darf es gerne das analoge Kochbuch sein, welches mit attestiert. Mit dem Einzug des Thermomix in den heimischen Haushalt hat sich dies in Teilen geändert, denn der Vorwerk-Assistent zum fröhlichen Gerichtezubereiten steuert einen durch jeden Schritt und macht es einem so sehr einfach, keine Fehler zu machen, denn man muss sich die Schritte, die vom ersten Löffel Salz bis zum fertigen Gericht gemacht werden müssen, nicht mehr merken. Wichtiges Wissen in Sachen Zubereitung wird von der internen Festplatte auf die Thermomix-Cloud ausgelagert.
Mit der KI ist es nichts anderes. Formulierungen in Texten übernimmt Claude oder ChatGPT. Jahrelang abgespeicherte Redewendungen werden von trainierten Textbausteinen ersetzt und plötzlich um Gedankenstriche erweitert, die früher nicht zu unserem Schreibrepertoire gehört haben.
KI und Thermomix bereichern unser Leben dennoch, denn wir können manche Dinge wirklich schneller und besser erledigen. Bei der KI ist es wichtig, sich damit zu beschäftigen, was sie uns an die Hand gibt, dann können wir sie so trainieren, dass wir etwas mitnehmen und nicht vergessen, wie bestimmte Sätze klingen müssen, und ebenso ist es mit dem Thermomix. Er ist ein Helfer, kein Koch. Wer nicht kochen kann, der sollte sich nicht auf den Ergebnissen dessen ausruhen, was der Thermomix geliefert hat, sondern darauf aufbauen und weiterkochen mit den Ideen, die einem beim Lesen von Kochbüchern anmachen oder beim Durchscrollen der vielen Kochtipps auf Instagram (wobei da auch nicht alles Gold ist, was glänzt oder gar so schmeckt, wie es aussieht).
Fazit
Die KI und der Thermomix machen uns nicht dümmer, aber sie helfen uns, denkfaul zu werden, und das ist nicht gut, denn unser Gehirn muss in Bewegung bleiben, sonst rostet es ein und dann vergessen wir eines Tages, wer wir sind und was uns ausmacht: Der immer gleiche Fehler in Texten und die Zutat, die wir gerne mal vergessen. Unsere Familien und Freunde wissen es zu verzeihen, denn es macht uns zu dem Individuum, das wir sind. Maschinellen Einheitsbrei gibt es an jeder Ecke, aber verliebt gewürztes Essen nur bei uns.
La Théorie de la tartine von Titiou Lecoq
Beim Lesestoff wird es heute fast nostalgisch und dennoch aktuell wie eh und je, wenn es um das Internet geht. Titiou Lecoq hat vor einigen Jahren ein Buch über die Theorie des Marmeladenbrots geschrieben. Darin geht es um Datensammeln, SEO und um das im Internet kaum vermeidbare Thema Sex. Wobei auch hier die KI alles in ihrer Kraft Stehende tut, um dieses Thema durch die Schere im Code aus Texten zu verbannen. Die KI wird das Netz noch von der Erotik befreien (wobei daran glaube ich nicht wirklich).
Wer sich mit dem Internet beschäftigt, der sollte dieses vor ein paar Jahren erschienene Buch lesen. Worum geht es denn nun?
In „Die Theorie vom Marmeladenbrot” geht es um die Theorie, dass im Leben immer alles schief geht, was schief gehen kann, also eine Art Murphys Law. Auf dieser Basis hat Titiou Lecoq ihre Geschichte um Marianne, einer attraktiven Bloggerin, dem idealistischen Journalisten Christophe und seinem Nerd-Kumpel Paul in Szene gesetzt.
Es geht um Freundschaften, die digital geschlossen wurden, um später im realen Leben (IRL – in real life) tiefe Wurzeln zu schlagen. Die Metamorphose des Internets von einer idealistischen Meinungsplattform zu einer millionenschweren, nicht mehr wegzudenkenden Industrie ist dabei die Plattform, auf der das Marmeladenbrot seine Theorie in die Praxis umsetzt. (Wie gesagt, es ist auch eine kleine Zeitreise zurück. Über KI dachte damals noch niemand ernsthaft als Alltagshilfsmittel nach).
Es geht um Sex
Wer ein Buch über das Internet schreibt, der kommt um das Thema Sex nicht herum, denn ohne Sex wäre das Internet ein deutlich langweiligerer Ort und schließlich hat die Erotikindustrie bereits früh erkannt, was sie alles mit diesem Internet zu unserer Freude und unserem Leid anstellen kann. Aus diesem Grund beginnt „Die Theorie vom Marmeladenbrot” auch mit einer Webseite zum Thema Erwachsenenunterhaltung. Im Jahr 2006, da steckte das Internet nicht mehr ganz in den Kinderschuhen, aber die Bilder ruckelten noch und ganze Filme zu streamen klang für viele User wie ein Märchen aus 1001 Nacht. Eben in diesem Jahr verlässt ein junger Mann die Bloggerin Marianne und rächt sich an ihr, denn sie ist fremdgegangen, indem er ein Sexvideo auf einer Webseite hochlädt. Christophe erkennt die Bloggerin auf der Webseite wieder und so beginnt eine Freundschaft zwischen einer verzweifelten jungen Frau, die plötzlich unrühmlich berühmt wird, und dem Internetfreak Paul, der mit Christophe befreundet ist.
In den ersten Kapiteln lernen wir die drei Protagonisten und ihr Umfeld kennen, bekommen einen kleinen Eindruck, wie es damals im Internet zuging und wie Geschäftsideen geboren wurden. Es geht um den guten alten IRC-Chat, der für die beste männliche Nebenrolle nominiert werden könnte, und um die Ideale, die mit dem Internet verbunden sind.
Es geht um Geld und nochmal um Sex
Das zweite große Thema im Internet ist es, mit merkwürdigen Geschäftsmodellen User abzuzocken (LinkedIn kannte damals auch noch keiner so gut), auch hier bekommen wir eine kleine Lehrstunde verpasst, und die hat natürlich wieder was mit Sex zu tun, aber mehr verrate ich jetzt nicht.
Dazwischen wird studiert und an der Zukunft gearbeitet, mal mit etwas mehr Erfolg und manchmal greift eben die Theorie vom Marmeladenbrot.
Datensammler und SEO-Experten
Im zweiten Teil des Buchs sind wir in der Realität des Jahres 2015 angekommen. Unsere drei Helden sind älter geworden und das Internet schneller. Der Druck auf Marianne, Christophe und Paul wird immer größer, denn längst sind sie Bestandteil der Internetindustrie und alle sind irgendwie abhängig vom Netz.
Lecoq gelingt im Buch ein schöner Schwenk von der amüsanten Geschichte um eine junge Bloggerin, deren Hintern auf einer nicht jugendfreien Seite zu sehen ist, hin zu einer kritischen Betrachtung dessen, was wir Big Data nennen. Was Datensammler und SEO-Experten gemeinsam mit windigen Beratern anrichten können, beschreibt die Autorin ziemlich unverblümt und offen. Es gelingt ihr damit, aus einem amüsanten Roman ein kritisches Sachbuch mit Romancharakter zu machen, denn das, was sie beschreibt, ist heute tatsächlich in vielen Fällen die Realität für Menschen, die mit und im Web arbeiten. Marianne, Paul und Christophe stehen am Ende des Romans jeweils für einen der Auswüchse, die sich durch die Datenkrake Internet immer schneller und vielfältiger in unserem Leben einnisten.
Lesen warum?
Selten habe ich mich so sehr in einer Zeitmaschine gefühlt wie in diesem Buch. 2006 habe ich schon im Internetbusiness gearbeitet und tue es auch heute noch. Was die drei erleben, konnte ich gut nachvollziehen und kann dem Buch somit auch noch eine sehr große Realitätsnähe attestieren, was es manchmal beängstigend macht, aber auch sehr unterhaltsam. Ein Buch ohne das Thema KI, aber mit ausreichend Bezug zu unserem heutigen Dasein mit ihr.
Das Buch ist bei Amazon erhältlich, aber die Buchhandlung um die Ecke freut sich auch über jeden Besucher. 20,00 € kostet der Roman und er ist jeden Cent wert.
Der Blog „Girls and Geeks” – aktueller Status und Inhalte
Titiou Lecoq wurde in Frankreich durch ihren Blog Girls and Geeks bekannt – ein persönliches, pointiertes Online-Tagebuch voller feministischer Alltagsbeobachtungen, Internetkultur und Humor. Von 2008 bis 2020 kommentierte sie dort schonungslos ehrlich das Leben zwischen Pop, Politik und Familienchaos. Auch wenn der Blog heute ruht (girlsandgeeks.com), ist Lecoqs Stimme präsenter denn je.
Stattdessen setzt sie auf neue Formate: Seit 2015 schreibt sie die erfolgreiche Newsletter-Kolumne Slate x Titiou mit überdurchschnittlich hoher Leserbindung. Sie publiziert für Leitmedien wie Le Monde und Libération – und bricht in ihrem Podcast Rends l’argent humorvoll das Tabu-Thema Geld in Beziehungen auf.
Adieu für diese Woche
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Euer #digitalpaddy