Warum KI den Lektor nicht überflüssig macht – sondern mehr denn je fordert
Ich habe mir neulich die Frage gestellt, ob ich eigentlich noch alle Tassen im Schrank habe. Nicht wegen meiner Teesammlung – die ist überschaubar. Sondern weil ich in den letzten Wochen immer wieder dieselbe Diskussion führe, mit Verlegern, Agenten, Autoren: «Braucht man in Zukunft überhaupt noch Lektoren?»
Die Antwort darauf erscheint auf den ersten Blick schlüssig: Wenn KI Texte schreiben, korrigieren und analysieren kann, warum sollte man dann noch Menschen beschäftigen, die genau das tun? Es ist die gleiche Logik, mit der vor Jahren argumentiert wurde, dass Programmatic Advertising alle Media-Planer überflüssig machen würde. Spoiler: Hat es nicht.
Aber der Reihe nach.
Der Widerspruch, den niemand sehen will
Es ist schon bizarr. Je besser die KI-Systeme werden, desto wichtiger wird menschliches Urteilsvermögen. Das klingt nach einem dieser «Ja, aber»-Argumente, mit denen sich eine Branche gegen die Realität wehrt. Ist es aber nicht. Es ist eine Beobachtung, die ich in meinem eigenen Berufsfeld gemacht habe und die sich jetzt in der Verlagswelt wiederholt.
ChatGPT und Konsorten haben die Einstiegshürde zum Schreiben drastisch gesenkt. Jeder kann heute mit Hilfe von KI einen Roman produzieren – grammatikalisch korrekt, strukturiert, lesbar. Die Folge ist eine Explosion der Manuskriptzahlen. Verlage berichten von steigenden Einsendungen. Was früher 200 Manuskripte pro Monat waren, sind heute 300 oder 400. Viele dieser Manuskripte sind technisch sauber, aber literarisch so interessant wie ein Verkaufsprospekt.
Die Herausforderung: In dieser Masse das wirklich Besondere zu finden, wird schwieriger, nicht einfacher. Und genau hier fängt die neue Rolle des Lektors an.
Was KI kann – und was sie fundamental nicht kann
Ich bin kein KI-Skeptiker. Ich nutze diese Tools selbst, täglich, für verschiedene Aufgaben. Aber ich habe auch gelernt, wo ihre Grenzen liegen. Nicht die technischen Grenzen von heute, sondern die konzeptionellen Grenzen, die auch in zehn Jahren noch bestehen werden.
KI kann Musterkennung. Sie erkennt Strukturen, Konsistenzen, Stilmuster. Sie kann analysieren, ob ein Text Genrekonventionen folgt, ob Charaktere konsistent handeln, ob die Dramaturgie einer etablierten Spannungskurve entspricht. Sie kann Hunderte Manuskripte durcharbeiten, während ein Mensch noch beim ersten ist.
Aber – und das ist der entscheidende Punkt – KI kann nicht erkennen, ob etwas originell ist. Sie ist trainiert auf das Bestehende. Sie kann sagen: «Dieser Text folgt bewährten Mustern» oder «Dieser Text weicht von Konventionen ab». Was sie nicht kann: beurteilen, ob diese Abweichung genial oder nur stümperhaft ist.
Ein Beispiel: Als «Ulysses» von James Joyce erschien, brach das Buch radikal mit allen Erzählkonventionen. Eine KI hätte es wahrscheinlich als strukturell problematisch eingestuft. Es brauchte menschliche Lektoren, um zu erkennen: Das ist nicht Unfähigkeit, das ist Genialität.
Vom Korrektor zum Kurator
Hier zeichnet sich die Transformation ab, die ich meine: Der Lektor wird vom Korrektor zum Kurator. Traditionell war ein großer Teil der Lektoratsarbeit handwerklich – Fehler korrigieren, Inkonsistenzen beseitigen, Strukturprobleme identifizieren. Diese Arbeit war wichtig, aber sie war auch zeitintensiv und repetitiv.
Mit KI-Unterstützung verschiebt sich der Fokus radikal. Die KI findet technische Fehler, der Lektor beurteilt literarische Qualität. Statt Schwächen zu eliminieren, erkennt und entwickelt der Lektor Potenziale. Statt Manuskript für Manuskript durchzuarbeiten, kuratiert er ein Programm.
Diese neue Rolle ist anspruchsvoller als die alte. Sie erfordert tieferes literarisches Verständnis, ausgeprägteres strategisches Denken, stärkere konzeptionelle Fähigkeiten. Die paradoxe Wahrheit: KI macht die Arbeit des Lektors nicht einfacher – sie macht sie wichtiger und wertvoller.
Ich habe das in der Werbeindustrie erlebt. Als Programmatic Advertising aufkam, dachten alle, Media-Planer würden überflüssig. Was dann passierte: Die technische Arbeit wurde automatisiert, aber die strategische Arbeit wurde komplexer. Wer nur Buchungen gemacht hatte, war tatsächlich gefährdet. Wer aber strategisch dachte, wurde wichtiger.
Die drei Dimensionen, die keine KI abdecken kann
Der moderne Lektor arbeitet auf drei Ebenen, die alle unverzichtbar sind und die keine KI abdecken kann.
Die literarische Dimension: In einer Flut technisch sauberer Texte wird es zur Kernkompetenz, das wirklich Besondere zu identifizieren. Das ist keine analytische Fähigkeit, die man in Algorithmen gießen kann. Es ist eine Kombination aus Erfahrung, Intuition, kulturellem Gespür und Mut. Ein Manuskript ist selten bei Einreichung perfekt. Die Frage ist: Was steckt darin? Ein guter Lektor sieht nicht nur, was da ist – er sieht, was daraus werden kann.
Die strategische Dimension: Jeder Verlag hat eine Identität. Der Lektor ist der Kurator dieser Identität. Welche Bücher passen zusammen? Welche Lücken hat unser Programm? Wo können wir uns positionieren? Das sind Fragen, die strategisches Denken erfordern – und ein tiefes Verständnis dafür, wer der Verlag ist und wer er sein will.
Die menschliche Dimension: Die Zusammenarbeit zwischen Autor und Lektor basiert auf Vertrauen. Ein Autor öffnet sich, macht sich verletzlich. Der Lektor muss diesen Raum halten können – mit Respekt, Empathie, Ehrlichkeit. Das ist Beziehungsarbeit, keine Dienstleistung. Diese menschliche Dimension ist fundamental nicht automatisierbar.
Warum gerade jetzt die Anforderungen steigen
Die Zahl der Manuskripteinsendungen steigt exponentiell. Ein Lektor kann nicht einfach mehr arbeiten. Die Arbeitswoche hat weiterhin nur fünf Tage. Also muss er anders arbeiten – fokussierter, selektiver, effizienter. Das bedeutet: Bessere Vorauswahl. Klarere Prioritäten. Schnellere Entscheidungen.
Und hier kommt die eigentliche Herausforderung: KI produziert Mittelmäßigkeit auf hohem Niveau. Texte, die technisch sauber sind, sich flüssig lesen lassen, keine offensichtlichen Schwächen haben – aber eben auch keine Höhepunkte, keine Originalität, keine Seele. Diese Texte zu identifizieren und auszusortieren ist schwieriger, als offensichtlich schlechte Texte zu erkennen.
Wo narratiQ ins Spiel kommt
Ich bin ja nicht ganz uneigennützig, wenn ich über dieses Thema schreibe. Ich habe mit narratiQ ein Tool entwickelt, das genau diese Herausforderungen adressiert. Aber – und das ist mir wichtig – es adressiert sie nicht, indem es Lektoren ersetzt, sondern indem es sie unterstützt.
Lisa, eine Lektorin in einem mittelgroßen Verlag, bekommt pro Woche etwa 80 neue Manuskripteinsendungen. Gleichzeitig betreut sie fünf Autoren in der finalen Überarbeitung und muss an drei Programmkonferenzen teilnehmen. Sie kann unmöglich 80 Manuskripte gründlich lesen. Also entwickelt sie eine Strategie: Sie liest die ersten 10-15 Seiten. Wenn sie nicht überzeugt ist, legt sie das Manuskript zur Seite.
Das Problem: Manche Bücher brauchen länger, um ihre Stärke zu zeigen. Lisa weiß das. Aber sie hat keine Wahl.
Mit narratiQ lässt Lisa alle 80 Manuskripte analysieren. Am Montagmorgen hat sie 80 kompakte Berichte. Sie sichtet diese: 30 sortiert sie schnell aus – grundlegende Struktur- oder Konsistenzprobleme. 40 sind technisch okay, aber ohne besondere Stärken. 10 hat narratiQ als vielversprechend eingestuft.
Lisa nimmt sich Zeit für diese 10 Manuskripte. Sie liest sie gründlich, macht sich Notizen, denkt über Entwicklungsmöglichkeiten nach. Bei zweien wird sie hellhörig: Hier ist wirklich etwas Besonderes.
Der entscheidende Unterschied: Lisa hat alle 80 Manuskripte geprüft, nicht nur oberflüssig überflogen. Sie hat ihre Zeit auf die 10 wirklich interessanten konzentriert, statt sie gleichmäßig auf alle 80 zu verteilen. Sie hat nichts übersehen.
Das Zusammenspiel, das funktioniert
Das ideale Modell ist nicht «KI oder Mensch», sondern «KI und Mensch». narratiQ übernimmt die systematische Konsistenzprüfung, Strukturanalyse, den Vergleich mit Genrekonventionen. Der Lektor entscheidet: Ist dieser Text literarisch wertvoll? Bricht er klug mit Konventionen oder scheitert er daran? Passt er zu unserem Verlagsprofil?
Diese Arbeitsteilung ist das Erfolgsrezept. KI macht die Arbeit effizienter – aber der Mensch macht sie gut.
Warum die menschliche Expertise wertvoller wird
Je besser die Technologie wird, desto wertvoller wird menschliche Expertise. Das erscheint paradox, ist aber historisch immer wieder so gewesen. Als Taschenrechner aufkamen, wurden Mathematiker nicht überflüssig – sie konnten komplexere Probleme angehen. Als Textverarbeitungsprogramme kamen, wurden Autoren nicht überflüssig – sie konnten produktiver arbeiten.
Das Muster ist immer gleich: Technologie automatisiert das Routinehafte. Dadurch steigt der Wert des Nicht-Routinehaften.
Im Lektorat bedeutet das: Technische Fehlersuche wird weniger wertvoll, literarisches Urteil wird wertvoller. Routineanalyse wird weniger wertvoll, strategisches Denken wird wertvoller. Der Lektor, der nur technische Fehler sucht, ist tatsächlich gefährdet. Aber der Lektor, der literarische Qualität erkennt, Autoren entwickelt und strategisch denkt, wird unverzichtbarer als je zuvor.
Der Lektor als Gatekeeper
In Zeiten, als wenige Menschen schrieben, war die Rolle des Lektors vor allem handwerklich: Das Rauhe glätten, das Fehlerhafte korrigieren, das Unfertige vollenden. In Zeiten, in denen Millionen Menschen mit KI-Hilfe schreiben können, wird die Rolle des Lektors existenziell: Das Besondere vom Mittelmäßigen trennen, das Wertvolle vom Austauschbaren unterscheiden, das Echte vom Künstlichen erkennen.
Der Lektor wird zum Gatekeeper der Qualität in einer Welt der Quantität. Das ist keine Degradierung – das ist eine Aufwertung.
Fazit
KI macht den Lektor nicht überflüssig – sie fordert ihn mehr denn je. Die Anforderungen steigen: Mehr Manuskripte sichten, schneller entscheiden, präziser urteilen. Gleichzeitig verschiebt sich der Fokus: Von technischer Korrektur zu literarischem Urteil, von Fehlersuche zu Potenzialentwicklung.
Diese neue Rolle ist anspruchsvoller und wertvoller als die alte. Und narratiQ ist ein Werkzeug, das hilft, diese Transformation zu bewältigen. Nicht indem es den Lektor ersetzt, sondern indem es ihm ermöglicht, sich auf das zu konzentrieren, was wirklich zählt.
Die Zukunft des Lektorats ist nicht Mensch gegen Maschine. Sie ist Mensch mit Maschine – zum Wohle der Literatur.
Mehr Informationen dazu bei narratiq.de
