Ich habe „Dreihundert Männer“ von Konstantin Richter gelesen. Fünfhundertdreiundvierzig Seiten über den Aufstieg und Fall der Deutschland AG – jenes exklusive Netzwerk aus Bankern, Industriekapitänen und Aufsichtsratsmandatsträgern, das über anderthalb Jahrhunderte die deutsche Wirtschaft prägte. Ein Monument von einem Buch, erschienen im Oktober 2025 bei Suhrkamp, und ich sitze hier mit meinem Tee und frage mich, warum mich diese Geschichte so nachdenklich macht.

Vielleicht liegt es daran, dass Richter etwas aufgeschrieben hat, was wir alle irgendwie wissen, aber nie so klar vor Augen hatten: dass es tatsächlich ein System gab, in dem dreihundert Männer – und ja, es waren ausschließlich Männer – die wirtschaftlichen Geschicke nicht nur Deutschlands, sondern des ganzen Kontinents lenkten. Die Zahl stammt von Walther Rathenau, der 1909 schrieb: „Dreihundert Männer, von denen jeder jeden kennt, leiten die wirtschaftlichen Geschicke des Kontinents.“ Nicht die Gründerunternehmer wie Krupp oder die Mannesmann-Brüder waren gemeint, sondern die angestellten Manager und Aufsichtsräte, die ihnen nachfolgten. Die Professionellen. Die, die agierten wie Eigentümer, obwohl sie formal nur Angestellte waren.

Richter wählt eine Montagetechnik, die zunächst sperrig wirkt – kurze Episoden von drei, vier Seiten, die er zu einem Gesamtklang verdichtet. Er begleitet Nicolaus Otto und Gottlieb Daimler bei der Gemüseernte, wo sie genauso erbittert konkurrieren wie bei der Motorenentwicklung. Er sitzt mit am Tisch, wenn die Mannesmann-Brüder in Marokko Intrigen spinnen. Er pendelt mit Thomas Middelhoff im Hubschrauber von Bielefeld nach Essen. Diese szenische, anekdotische Erzählweise macht anderthalb Jahrhunderte Wirtschaftsgeschichte zugänglich – manchmal sogar unterhaltsam.

Das System, das Deutschland groß machte

Die Deutschland AG entstand während der rasanten Industrialisierung im späten 19. Jahrhundert. Universalbanken wie die Deutsche Bank und Versicherungen wie die Allianz finanzierten das Wachstum und entwickelten enge Beziehungen zur Industrie. Kreuzbeteiligungen und personelle Verflechtungen schufen ein Netzwerk, das Deutschland half, zu Großbritannien aufzuschließen. Das System überlebte die Weimarer Wirtschaftskrisen, passte sich – und hier wird es unangenehm – der NS-Kriegswirtschaft an, wobei viele Firmen Zwangsarbeiter einsetzten. Seine Blütezeit erreichte es zwischen den Fünfziger- und Achtzigerjahren, in der Ära des rheinischen Kapitalismus oder der sozialen Marktwirtschaft, wie wir das gerne nennen.

Dieses Netzwerk schützte deutsche Firmen vor feindlichen Übernahmen und ausländischem Einfluss. Es privilegierte Stabilität über Aktionärsrenditen. Es war, um es klar zu sagen, ein oligarchisches System. Es machte Deutschland zur Industriemacht und zum Exportweltmeister. Aber es schränkte auch Transparenz und Wettbewerb ein.

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Alfred Herrhausen verkörperte diese Ära wie kein anderer. Vorstandssprecher der Deutschen Bank von 1985 bis 1989, Berater von Helmut Kohl. Im November 1989 wurde er von der RAF ermordet – nur Wochen nach dem Mauerfall. Das symbolische Ende einer Epoche.

Der Fall: Als die Steuerreform alles veränderte

Bereits in den Siebzigerjahren galt das System als überholt. „Verkrustet“, sagten die Kritiker. Der globalisierte Wettbewerb und das angelsächsische Shareholder-Value-Modell erhöhten den Reformdruck. Der entscheidende Wendepunkt kam am 23. Oktober 2000 mit einer Steuerreform: Ab dem 1. Januar 2002 wurden Kapitalerträge aus dem Verkauf von Unternehmensbeteiligungen steuerfrei. Zuvor hatten Steuern von bis zu fünfzig Prozent einen Lock-in-Effekt geschaffen.

Die Regierung wollte gezielt die verkrusteten Strukturen auflösen – und das gelang. Zwischen 2002 und 2006 verkauften Banken und Versicherungen massenhaft ihre Industriebeteiligungen. Die Deutsche Bank etwa trennte sich von Anteilen an Karstadt und Klöckner, Südzucker und Salamander, Hapag-Lloyd und Heidelberger Zement.

Das symbolische Ende markierte die Vodafone-Mannesmann-Übernahme von 1999 bis 2000. Der britische Telekom-Konzern Vodafone bot für das deutsche Traditionsunternehmen Mannesmann – was massive Widerstände bei Gewerkschaften, Politikern und im Establishment auslöste. Am 3. Februar 2000 akzeptierte der Vorstand dennoch. Die Übernahme demonstrierte, dass die Deutschland AG deutsche Konzerne nicht mehr vor ausländischem Zugriff schützen konnte. Ein Bruch mit der Tradition. Das Ende einer Ära.

Was Richter verschweigt und was er zeigt

Richter ist Journalist, kein Akademiker. Er hat für das Wall Street Journal gearbeitet, schreibt für The Guardian, The New York Times, Die Zeit. Er war Geschäftsführer eines Verlags, Direktor bei Tamedia, Verleger und Miteigentümer des neuseeländischen Magazins North & South. Seine Kombination aus internationaler Wirtschaftsjournalismus-Erfahrung, Verlagsführung und literarischem Talent qualifiziert ihn für dieses Projekt. Er versteht die Insiderperspektive deutscher Unternehmenskultur und die Außensicht des internationalen Beobachters.

Dennoch gibt es Lücken. Die Kritik bemängelt zu Recht, dass die Analyse bei der DDR-Wirtschaft und der deutschen Industrie im Nationalsozialismus dünner ausfällt. Eva-Marie Roelevink schrieb in Soziopolis, die Auslassung der DDR-Zeit von 1949 bis 1989 sei eine „großflächige Lücke“. Zur NS-Zeit zitiert sie Richter: „Nicht zu belegen ist, dass die dreihundert Männer den Holocaust befürworteten oder gar anstrebten; dass sie ihn nutzten und dabei ein völlig amoralisches Effizienzstreben an den Tag legten, trifft es schon eher.“ Eine Formulierung, die Fragen nach der angemessenen Schärfe der Analyse aufwirft.

Aber Richter zeigt auch etwas Überraschendes: Warnungen vor deutschem Wirtschaftsabstieg sind erstaunlich alt. Bereits während des Wirtschaftswunders der Sechzigerjahre beklagte Der Spiegel mangelnde Investitionen in Zukunftsindustrien, den Rückstand zu den USA in Forschung und Entwicklung, Abwanderung qualifizierter Kräfte und Abhängigkeit von der Autoindustrie. Themen, die bis heute aktuell sind. Die Zukunftsangst der Deutschen scheint zyklisch zu sein – vielleicht sogar chronisch.

Die Frage nach dem moralischen Kompass

Richters letzter Satz lautet: „Die Zukunft ist offen.“ Das ist weniger Resignation als realistische Bestandsaufnahme. Nach dem Ende der Deutschland AG steht Deutschland vor der Herausforderung, ein neues Modell zu finden – zwischen Stabilität und Disruption, zwischen nationaler Identität und globaler Integration.

Die zentrale Frage, die Richter aufwirft und bewusst unbeantwortet lässt, ist die nach dem moralischen Kompass. Hat die deutsche Unternehmerschaft ihn verloren? Oder gab es ihn nie? War die Deutschland AG ein System, das trotz seiner Oligarchie zumindest ein gewisses Maß an Verantwortungsgefühl gegenüber Arbeitnehmern und Standorten bewahrte? Oder ist das nur Nostalgie?

Ich habe keine abschließende Antwort darauf. Aber ich habe nach der Lektüre das Gefühl, dass wir in einer Zwischenzeit leben. Die alten Strukturen sind aufgelöst, die neuen noch nicht gefunden. Die koordinierenden Netzwerkstrukturen, die einst Industriestrategie ermöglichten, fehlen. Was wir stattdessen haben, ist ein angelsächsisches Shareholder-Value-Modell, das deutsche Unternehmen in einen globalisierten Wettbewerb zwingt – ohne dass es noch jemanden gibt, der die Fäden zusammenhält.

Ein Buch zur richtigen Zeit

„Dreihundert Männer“ ist mehr als eine Wirtschaftschronik. Es ist ein literarisches Werk, das anderthalb Jahrhunderte deutschen Kapitalismus durch die Linse individueller Schicksale erzählt. Die Montagetechnik verwandelt trockene Unternehmensgeschichte in lebendige Szenen, in denen Konkurrenz, Intrigen und Hybris ebenso präsent sind wie Innovation und Aufstieg.

Das Buch erschien zur richtigen Zeit. 2025 debattiert Deutschland intensiv über wirtschaftlichen Abstieg, Innovationsdefizite und Wettbewerbsfähigkeit. Richters historische Perspektive zeigt, dass diese Sorgen zyklisch wiederkehren – bietet aber auch Kontext für aktuelle Transformationen. Die Auflösung der Deutschland AG bedeutete den Übergang vom rheinischen Kapitalismus zum angelsächsischen Shareholder-Value-Modell. Ein Spannungsfeld zwischen alter Stabilität und neuer Dynamik, das Deutschland noch nicht aufgelöst hat.

Wolfram Eilenberger nannte es „ein Wunder von einem Buch“. Daniel Siemens lobte in der Süddeutschen Zeitung das „spannend erzählte und vor allem unterhaltsame Meisterwerk“. Ich würde sagen: ein wichtiger Beitrag zur Selbstverständigung über die deutsche Wirtschaftskultur. Ein Buch, das historisches Fundament liefert, um die Zukunft informiert zu gestalten.

Ob uns das gelingt, ist eine andere Frage. Aber zumindest wissen wir jetzt, wo wir herkommen. Und manchmal ist das schon die halbe Miete

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