
Da saßen sie nun – alle in einem der Türme, die Frankfurt den Beinamen „Mainhatten“ verschafft haben. Weil wir uns hier so schön an die Skyline der anderen Finanzmetropole erinnert fühlen, auch wenn bei uns am Main die hohen Häuser doch noch etwas kleiner sind – und es auch deutlich weniger von ihnen gibt. Frankfurt ist weder die kleine Schwester von Manhattan noch eine Kopie. Es verhält sich vielmehr wie der Charakter zur Personal Brand: Das eine ist man selbst, das andere oft nur eine Kopie aus dem Maßnahmenkatalog eines Coachingevents
Am Tiefpunkt im Change-Prozess
Die Protagonisten dieses Vergleichs sind eine Gruppe von Mitarbeitenden eines Finanzinstituts, die sich gerade am Tiefpunkt eines Change-Prozesses befinden – und sich an diesem sonnigen Winternachmittag deutlich unwohl fühlen. Denn heute treffen sie auf einen Nonbanker – einen, der aus der digitalen Welt kommt und „einfach mal“ mit ihnen über Trends, Themen und Transformation sprechen will. Zur Auflockerung gibt es einen kleinen Hack – gelernt von meinem Kumpel Tomas. Da der Nonbanker in diesem Fall ich bin, gibt es also einen kleinen Exkurs zum Thema Weinanbau in Südafrika und zwei Probierschlückchen Wein.
Menschenschach und Atemübung
Die Führungskräfte haben sämtliche Kurse, Trainings, Coachings und Seminare besucht, die heute zum guten Ton im HR-Bereich gehören. Geschliffen und glatt getrimmt für die Anforderungen im modernen Management. Viele der absolvierten Lernprozesse haben die vier Herren und die eine Dame optimal auf den Job vorbereitet. Ich wäre an manchen Tagen in meinen alten Jobs froh gewesen über so eine breite Palette an Unterstützung durch den Arbeitgeber. Klar – auch diese kleine Gruppe hat lustige Sachen gemacht: menschliches Schach, Atemübungen, Konfrontationsgespräche. Alles in allem: sehr wichtig und hilfreich.
Fein geschliffen und konform gemacht
Leider – und ich meine das ernst – haben auch alle Kurse und Seminare zum Thema Personal Brand besucht und sich in Sachen Diskussionskultur schulen lassen, teils sogar auf eigene Rechnung. Ein Glas Wein hilft, die Barrieren aufzubrechen und tatsächlich etwas lockerer zu werden. Denn während wir so miteinander reden, wird schnell klar: Die Antworten kommen wie aus dem Lehrbuch. Keine Regung, keine Persönlichkeit, die sich den Weg bahnt. Abgestimmtes und ständig kontrolliertes Verhalten ist die größte Auffälligkeit an diesem Nachmittag im 18. Stock mit Blick auf den Main.
„Du bist mir eine Marke“ – mancher kennt diesen Spruch vielleicht noch von der Oma, wenn man etwas sehr Spezielles gemacht hat, etwas, das einen ziemlich einzigartig machte – oder als besonders ausgeprägte Charaktereigenschaft hervorstach. Personal Branding zielt heute darauf ab, aus dem Menschen eine Marke zu machen. Der Management-Coach Thomas J. Peters prägte den Begriff in den 1990er-Jahren. Seither hat das Thema mit dem Aufstieg des Internets massiv an Bedeutung gewonnen. Denn nur starke Persönlichkeitsmarken haben eine Chance in der digitalen Welt.
Selbstvermarktung des eigenen Ichs als Ziel der Persönlichkeitsoptimierung.
Ich glaube, wir brauchen – gerade in Führungspositionen – mehr Menschen mit starkem, eigenem Charakter statt einer Marke, die man sich aus einem Leitfaden zusammenkreiert hat. Der eigene Charakter ist und bleibt individuell. Der gecoachte, auf Verhaltensmuster antrainierte Mensch mit seiner „eigenen Marke“ verschwimmt in einem Meer aus standardisierter Konformität – und wird damit nicht zu einer starken Marke, sondern zu dem, was er nicht sein möchte: eine von vielen Motten, die gemeinsam ins Licht fliegen – und gemeinsam untergehen.
Frankfurt ist nicht NYC. Und Peter ist eben Peter – nicht Mr. Big Business, auch wenn sein Instaprofil und sein LinkedIn danach aussehen.
Was glaubt ihr: Ist mehr eigener Charakter besser, als zu einer Personal Brand zu werden?
Danke an Vanessa, Alexander, Björn, Martin und Stefan für den gemeinsamen Nachmittag – und die Erlaubnis, unsere „Session“ und ihr Ergebnis in dieser Form öffentlich zu machen.
Bild: OpenAI