Ich sitze hier mit meinem dritten Tee des Vormittags und scrolle durch die üblichen Verdächtigen in meiner Timeline. Irgendwo zwischen Achtsamkeits-Coaches und Persönlichkeitsentwicklungs-Gurus stolpere ich über einen Post über «Sisu». Finnische Resilienz. Unbequeme Entschlossenheit. Das komplette Gegenteil von dem, was Deutschland in den letzten Jahren so hingebungsvoll zelebriert hat.
Ich habe mich gefragt, wann genau wir kollektiv beschlossen haben, dass Kerzenschein und Wolldecken die Antwort auf alles sind.
Als Hygge noch die Lösung war
Es gab diese Phase. Kennt ihr alle. Plötzlich stand in jeder zweiten Buchhandlung ein Stapel dänischer Glücksratgeber. Hygge. Dieses wunderbar unaussprechliche Wort für Gemütlichkeit, das sich anfühlte wie eine sanfte Umarmung in Zeiten, die kompliziert wurden. Deutschland hat das aufgesogen wie ein trockener Schwamm. Endlich mal ein Trend, der nichts verlangte außer weichen Kissen und heißer Schokolade.
Ich gebe zu, ich fand das anfangs auch charmant: diese bewusste Verlangsamung, diese Ritualisierung des Wohlfühlens. Kerzen anzünden gegen die Dunkelheit da draußen. Eine Strategie, die so beruhigend war wie ein Beruhigungsmittel.
Aber genau das war sie eben auch.
Dann kam die Realität
Während wir uns in unsere Decken wickelten, hat sich die Welt weitergedreht und zwar nicht in Richtung mehr Gemütlichkeit. Die Finnen, diese pragmatischen Nordlichter, haben ihre Kinder längst darauf vorbereitet, Desinformation zu erkennen. Erwachsene besuchen freiwillig Kurse über Zivilschutz und Krisenvorsorge. Nicht aus Panik, sondern aus Verantwortung.
Sisu. Das klingt hart. Kantig. Nach etwas, das wehtun könnte.
Für die meisten Deutschen klingt das nach nordischem Drill, nach militärischem Ernst, nach allem, was man nicht sein will. Wir sind doch die Generation Hygge, verdammt noch mal. Wir haben uns gerade erst beigebracht, dass Softness eine Stärke ist. Und jetzt sollen wir wieder hart werden?
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Offenbar haben wir das Konzept missverstanden.
Die unbequeme Wahrheit über Sisu
Sisu ist nicht Härte. Sisu ist das Vertrauen, dass man durchkommt. Es ist die nüchterne Erkenntnis, dass Bedrohungen real sind, aber eben auch bewältigbar. Es ist das Gegenteil von Verdrängung. Man schaut hin, nicht weg. Man bereitet sich vor, statt zu hoffen, dass schon alles gut gehen wird.
Deutschland liebt Planbarkeit, Berechenbarkeit, Versicherungen für alles. Aber emotionale Resilienz? Die Fähigkeit, auch ohne perfekte Absicherung zurechtzukommen? Das haben wir ausgelagert. An Therapeutinnen und Therapeuten, an Coaches, an Apps, die uns sagen, wann wir atmen sollen.
Ich will nicht behaupten, dass die Finnen alles richtig machen. Aber sie haben verstanden, dass Sicherheit keine Dienstleistung ist, die der Staat vollständig übernehmen kann. Sicherheit entsteht auch durch Bürgerinnen und Bürger, die sich nicht wegducken, wenn es unangenehm wird.
Und genau das ist der Punkt, an dem viele Deutsche innerlich abwinken. Zu anstrengend. Zu düster. Zu wenig Kerzen.
Zwischen Kerzenlicht und Krisenmodus
Wir stecken in einem seltsamen Zwiespalt. Einerseits wächst das Bewusstsein, dass die Welt fragiler geworden ist. Andererseits ist der Wunsch riesig, einfach im Hygge-Zeitalter zu bleiben. Man sehnt sich nach dem Gefühl, dass politische Stürme vorüberziehen, wenn man nur die Vorhänge zuzieht und den Tee heiß genug macht.
Finnland zeigt ziemlich eindeutig: Das funktioniert nicht.
Die Finnen trainieren Gelassenheit nicht durch Wegschauen, sondern durch Hinsehen. Nicht durch romantische Harmonie, sondern durch pragmatische Vorbereitung. Das ist nichts Heroisches – es ist banal vernünftig.
Und wahnsinnig unbequem für eine Gesellschaft, die gerade erst gelernt hat, dass Selbstfürsorge bedeutet, sich nicht zu überfordern.
Was Deutschland braucht – und was nicht
Niemand verlangt, dass wir jetzt alle finnisch werden. Niemand erwartet, dass deutsche Grundschüler Schießübungen machen oder dass wir die Wehrpflicht wiedereinführen, nur weil die Welt unübersichtlicher geworden ist. Aber ein bisschen weniger Verdrängung wäre hilfreich.
Ein bisschen mehr Realismus.
Ein bisschen weniger «Das wird schon irgendwie» und mehr «Was können wir tun, damit es gut wird?».
Vielleicht braucht Deutschland sein eigenes Wort dafür. Etwas zwischen Sisu und Hygge. Eine Art weiche Entschlossenheit. Gemütlicher Pragmatismus. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass wir nicht weiterkommen, indem wir hoffen, dass die Zukunft sich an unsere Wohlfühlzone anpasst.
Eins weiß ich
Die Zukunft wird nicht behaglich sein. Sie wird nicht nach Zimtkerzen und heißer Schokolade riechen. Sie wird fordernd sein. Und die Frage ist, ob wir bereit sind, ihr mit etwas mehr als weichen Kissen zu begegnen.
Sisu verlangt keine Härte. Es verlangt Standfestigkeit. Die Erkenntnis, dass man Krisen nicht wegkuscheln kann. Und dass es sicherer ist, vorbereitet zu sein, als darauf zu hoffen, dass schon nichts passieren wird.
Deutschland muss nicht finnisch werden – aber mutiger, nüchterner, realistischer.
Und das wird unbequem. Aber notwendig.
Kommen wir zurück zu den Kerzen. Ich mag sie immer noch. Aber ich zünde sie jetzt anders an. Nicht als Flucht vor der Dunkelheit, sondern weil ich weiß, dass ich auch ohne sie zurechtkomme.
Das wäre dann wohl deutsches Sisu.
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