Der Newsletter, der Küchentechnologie, künstliche Intelligenz und Genusskultur auf einzigartige Weise verbindet

Liebe Leserinnen und Leser,

auf der Fahrt zur Arbeit höre ich Radio. Eine Werbung für den neuen Thermomix TM7 läuft, direkt gefolgt von einem Bericht über ChatGPT in deutschen Schulen. Im Stau scrolle ich durch LinkedIn – ein endloser Strom von KI-Experten, die ihre neuesten Prompt-Erfolge teilen. Später auf Instagram dann die besorgte Mütter mit ihren perfekten Thermomix-Risottos.

Drei Phänomene, ein Gedanke: Sind das alles nur Zeitgeist-Produkte? Und wenn ja – sollten wir uns dann nicht langsam Sorgen machen? Über uns selbst?

Die unbequeme Wahrheit über Zeitgeist-Produkte

12% der deutschen Haushalte besitzen einen Thermomix. 67% aller deutschen Internet-Nutzer haben schon mal eine KI verwendet. 18 Millionen Deutsche sind auf LinkedIn aktiv. Beeindruckende Zahlen – aber sind sie ein Indikator für dauerhafte Veränderung oder nur für gut gemachtes Marketing?

Aus meiner Sicht ist die Zeitgeist-Frage die wichtigste Frage, die wir uns stellen können. Denn sie entscheidet darüber, ob wir gerade die Zukunft gestalten oder nur einem besonders gut orchestrierten Hype hinterherlaufen.

Der Thermomix: 20 Jahre Zeitgeist oder echte Innovation?

Der TM21 kam 2004 auf den Markt. Das iPhone wurde 2007 vorgestellt. Facebook startete auch 2004. Von diesen drei Produkten würde heute niemand mehr behaupten, sie seien nur Zeitgeist gewesen. Aber warum eigentlich nicht?

Die Thermomix-Theorie der nachhaltigen Innovation:

Ein Zeitgeist-Produkt verspricht schnelle Lösungen für oberflächliche Probleme. Der Thermomix hingegen löste ein echtes Problem: präzises Kochen ohne Expertenwissen. Das Gerät funktioniert auch ohne Community, ohne ständige Updates, ohne dass man darüber posten muss.

Meine Beobachtung nach zehn Jahren Thermomix-Nutzung: Die Euphorie lässt nach, aber das Gerät bleibt. Es wird zum stillen Helfer, nicht zum Show-Objekt. Echte Innovation erkennst du daran, dass sie irgendwann selbstverständlich wird.

KI: Der lauteste Zeitgeist aller Zeiten?

KI hingegen ist anders. Jeden Tag neue Modelle, jeden Monat revolutionäre Durchbrüche, jede Woche ein neuer Anwendungsfall, der angeblich alles verändert. Das ist nicht die Art, wie sich nachhaltige Technologien durchsetzen.

Aber vielleicht ist genau das der Punkt: KI ist nicht ein Produkt, sondern eine Basistechnologie. Wie Elektrizität oder das Internet. Die frühen Jahre des Internets waren auch voller Hype, gescheiterter Startups und übertriebener Versprechen. Trotzdem war die Grundtechnologie revolutionär.

Die KI-Paradox: Je mehr wir über KI reden, desto weniger verstehen wir, was sie langfristig bedeutet. Der Zeitgeist verstellt uns den Blick auf das Wesentliche.

LinkedIn: Der perfekte Zeitgeist-Verstärker

Und dann ist da LinkedIn. Eine Plattform, die aus beruflicher Notwendigkeit zu einem gesellschaftlichen Phänomen geworden ist. Hier werden Thermomix-Erfolge zu Business-Content, KI-Experimente zu Thought Leadership, persönliche Meinungen zu Corporate Statements.

Die böse Frage: Sollten wir uns von LinkedIn verabschieden?

Ich stelle sie mir täglich. LinkedIn verstärkt jeden Zeitgeist zum Maximum. Jeder Trend wird hier zu einem Business-Case, jede persönliche Erfahrung zu einer universellen Wahrheit. Die Plattform macht aus normalen Menschen Meinungsführer und aus Meinungsführern Influencer.

Mein LinkedIn-Feed ist ein Museum des Zeitgeists: Erst waren alle Blockchain-Experten, dann Growth-Hacker, jetzt sind alle KI-Spezialisten. In zwei Jahren wird es etwas anderes sein.

Aber: Ohne LinkedIn würde dieser Newsletter nicht existieren. Ohne die Plattform hätte ich nie die Community gefunden, die diese ungewöhnliche Mischung aus Thermomix, KI und Lesestoff schätzt. Zeitgeist kann also auch verbinden, inspirieren, Neues entstehen lassen.

Die Anatomie des echten Problems

Zeitgeist-Produkte lösen meist Probleme, von denen wir nicht wussten, dass wir sie haben. Echte Innovation löst Probleme, unter denen wir schon lange leiden.

Thermomix: Löst das echte Problem unzuverlässiger Kochergebnisse KI: Löst das echte Problem zeitaufwändiger, repetitiver Denkarbeit
LinkedIn: Löst das echte Problem beruflicher Vernetzung

Aber sie schaffen auch neue Probleme:

Thermomix: Macht abhängig von einem Gerät und seinem Ökosystem KI: Macht abhängig von Algorithmen und deren Qualität LinkedIn: Macht abhängig von digitaler Selbstdarstellung und permanenter Verfügbarkeit

Die Frage ist: Überwiegen die gelösten oder die geschaffenen Probleme?

Der Test der Zeit: Was bleibt, was geht?

Aus meiner Sicht gibt es drei Indikatoren für nachhaltige Innovation:

1. Die Stille-Post-Regel: Echte Innovation funktioniert auch, wenn nicht mehr darüber geredet wird. Mein TM5 von 2014 kocht immer noch perfekte Suppen, obwohl niemand mehr über ihn postet.

2. Die Großmutter-Regel: Nachhaltige Technologie können auch Menschen nutzen, die nicht zur Zielgruppe gehören. Meine 78-jährige Nachbarin nutzt ChatGPT für Briefvorlagen. Das spricht für echten Nutzen jenseits des Hypes.

3. Die Langeweile-Regel: Wenn etwas alltäglich und selbstverständlich wird, war es echte Innovation. Internetbanking ist heute langweilig – und deswegen erfolgreich.

Persönliche Bestandsaufnahme: Wo stehe ich?

Ich nutze täglich KI, koche regelmäßig mit dem Thermomix und publiziere auf LinkedIn. Bin ich also Teil des Problems? Vermutlich ja.

Aber ich versuche, bewusst zu unterscheiden: Was nutze ich, weil es wirklich hilft? Was nutze ich, weil alle anderen es auch nutzen? Und was nutze ich, obwohl es mir eigentlich nicht guttut?

KI: Hilft mir beim Schreiben, aber ich achte darauf, dass meine Stimme erkennbar bleibt.
Thermomix: Macht das Kochen planbare, aber ich kann auch ohne.
LinkedIn: Ermöglicht diesen Newsletter, aber ich merke, wie die Plattform mein Denken beeinflusst.

Die Zeitgeist-Falle: Wenn Innovation zum Lifestyle wird

Das größte Problem von Zeitgeist-Produkten ist nicht, dass sie wieder verschwinden. Das größte Problem ist, dass sie zu Lifestyle-Symbolen werden. Dann geht es nicht mehr um Nutzen, sondern um Zugehörigkeit.

Der Thermomix wird zum Statussymbol der organisierten Mittelschicht. KI wird zum Ausweis digitaler Kompetenz. LinkedIn wird zur Bühne beruflicher Selbstinszenierung.

Wenn aus Werkzeugen Identitätsobjekte werden, verlieren wir die Fähigkeit zur nüchternen Bewertung. Wir können nicht mehr ehrlich sagen: «Das brauche ich nicht.» Oder: «Das funktioniert bei mir nicht.» Oder: «Das ist mir zu teuer für den Nutzen.»

Die linkedin-Frage: Flucht oder bewusste Nutzung?

Sollten wir uns also von LinkedIn verabschieden? Die Frage ist komplexer, als sie klingt.

LinkedIn verstärkt Zeitgeist-Phänomene, aber es spiegelt auch gesellschaftliche Entwicklungen wider. Die Plattform macht sichtbar, was ohnehin da ist: unsere Neigung zu Hypes, unser Bedürfnis nach beruflicher Anerkennung, unsere Angst, Trends zu verpassen.

Mein Versuch einer ehrlichen Antwort: Ich bleibe auf LinkedIn, aber ich versuche, bewusster zu nutzen. Weniger konsumieren, mehr reflektieren. Weniger posten, mehr durchdenken. Weniger reagieren, mehr agieren.

Vielleicht ist das der Schlüssel: Nicht dem Zeitgeist hinterherlaufen, sondern ihn bewusst als das erkennen, was er ist – eine Momentaufnahme, nicht die Zukunft.

Der Wert des Unzeitgemäßen

Es gibt etwas Befreikendes daran, bewusst unzeitgemäß zu sein. Kein LinkedIn zu nutzen, wenn alle auf LinkedIn sind. Nicht über KI zu posten, obwohl es Reichweite bringt. Den alten TM5 zu behalten, obwohl der TM7 neue Features hat.

Unzeitgemäß zu sein heißt nicht, rückständig zu sein. Es heißt, selbst zu entscheiden, was einem wichtig ist. Und manchmal ist das Wichtigste nicht das Neueste.

Ein Wein für Unzeitgemäße: Leopard’s Leap Chenin Blanc

Chenin Blanc ist so unzeitgemäß wie eine Rebsorte nur sein kann. Während alle Welt über Orange Wine und Natural Wine spricht, macht der Chenin Blanc seit Jahrhunderten dasselbe: Er wächst, wird ausgebaut und schmeckt nach dem, was er ist – ohne Schnörkel, ohne Marketing-Story.

Dieser Südafrikaner aus dem Hause Leopard’s Leap hinterlässt gleich zweifach einen guten ersten Eindruck: Preislich erschwinglich macht er optisch eine gute Figur. In sattem Strohgelb regt der Weißwein im «Neue Welt-Stil» zum Genießen an. Bereits beim Riechen kündigen sich typische exotische Aromen an. Darunter Mango, Ananas und Guave. Zudem im Hintergrund eine unterschwellige Kräuternote.

Der Gaumen wird mit geballter Frucht geschmeichelt und im Abgang offenbart sich eine milde Würze mit betonter, angenehmer Säure, die einen schönen Kontrast zur Frucht liefert. Weich auf der Zunge, facettenreich im Geschmack und das zu einem überaus fairen Preis.

Die Trauben stammen aus der Küstenregion Perdeberg, reifen bei kontrollierten 14°C in Edelstahltanks. Kein Experiment, kein revolutionärer Ansatz – einfach solides Handwerk. Genau das Gegenteil von Zeitgeist.

Preis: sehr fair
Zeitgeist-Faktor: Niedrig
Tradition-Faktor: Hoch
Empfehlung: Für alle, die Chenin Blanc als das schätzen, was er ist – Tradition statt Trend


Fazit: Die Weisheit der bewussten Entscheidung

Am Ende ist die Zeitgeist-Frage eine Frage der bewussten Entscheidung. Nutzen wir KI, Thermomix und LinkedIn, weil sie uns wirklich helfen? Oder nutzen wir sie, weil alle anderen sie auch nutzen?

Ich glaube, die Antwort liegt in der goldenen Mitte. Zeitgeist komplett zu ignorieren ist genauso naiv, wie ihm blind zu folgen. Die Kunst liegt darin, zu unterscheiden: Was ist nur Hype, was ist echte Innovation? Was hilft mir wirklich, was macht mich nur zum Teil einer Bewegung?

Vielleicht sollten wir öfter innehalten und uns fragen: Was würde passieren, wenn ich das eine Jahr lang nicht nutze? Beim Thermomix: Ich würde wieder mehr experimentieren, mehr nach Gefühl kochen. Bei KI: Ich würde langsamer, aber vielleicht kreativer schreiben. Bei LinkedIn: Ich würde weniger über meine Arbeit nachdenken und mehr arbeiten.

Das sind keine schlechten Aussichten. Vielleicht ist das der wahre Test für Zeitgeist-Produkte: Können wir ohne sie leben? Und wenn ja – warum tun wir es nicht?

Bis nächste Woche mit neuen Fragen zwischen Hype und Realität!

Euer #digitalpaddy

P.S.: Falls ihr nach dem Lesen Lust bekommen habt, mal eine Woche ohne LinkedIn auszukommen – probiert es aus. Ich bin gespannt auf eure Erfahrungen. Aber postet sie bitte nicht auf LinkedIn. Und wer Lust auf einen Krimi aus der Digitalbranche hat: «Mord auf der Messe» gibt es heute kostenlos als eBook bei Amazon.

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