Juli 10, 2024

Fitzelchen – “Gott stinkt” – Leseprobe und Lesung

Neu bei meiersworld.de. Wenn du keine Lust oder Zeit hast einen Text zu lesen, dann kannst du alle Texte mit dem Mikrofon als Audiodatein anhören. Der Vorteil ist, dass du dann auch noch Zeit hast dich auf die Strasse oder die Landschaft zu konzentrieren und trotzdem keinen Beitrag von mir verpasst. Dieser Text ist 4 Minuten lang und du kannst die Audiodatei hier abrufen.

Leseprobe der Kurzgeschichte “Gott stinkt”

Madeleine hatte es geschafft, ihren unglücklichen Mann beim Arzt zu lassen und die Kinder bei der Oma unterzubringen. Nun saß sie auf der Parkbank einer mittelgroßen Stadt unter einem alten Eichenbaum auf einer von der Familie Hammenthaler gestifteten Bank. Der Zustand des Anstrichs ließ darauf schließen, dass Fritz Hammenthaler und seine Familie einmalig gespendet hatten und für einen zweiten Anstrich entweder die biologische oder die finanzielle Uhr abgelaufen zu sein schien.

Die zweite Zigarette auf Fritzens Parkbank rauchte sie mit mehr Ruhe, als sie die ersten Züge in ihre Lungen gesogen hatte. Dies lag vor allem daran, dass Madeleine nur dann rauchte, wenn Mann und Kinder sich außerhalb der Meckerzone über ihren gesundheitlichen Niedergang befanden. Mit der dritten Zigarette begann die Entspannung, die sie so sehr benötigt hatte. Sie band die Haare zu einem Knoten, krempelte die Hosenbeine etwas hoch und ließ sich von der Umgebung nicht mehr stören. Weder der Flaschensammler, der neben ihr im Müll kramte, noch die Großfamilie mit der Picknickdecke brachten sie aus der Ruhe, die sich in ihr breit machte. Mit der vierten Zigarette legte sie das Mobiltelefon beiseite und anstatt durch den Bildschirm mit dem Leben verbunden zu sein, nahm sie das Leben im Park als existent durch ihre Sinnesorgane wahr. Sie beugte sich nach vorne, stützte sich mit den Armen auf die Knie und sah den Ameisen am Boden zu. Betriebsam gingen sie ihrer Arbeit nach, weder nach links noch nach rechts schauend, nicht vom Internet abgelenkt oder den Alltagsproblemen ihrer Familie.

Ameisenstraßen hatten etwas Unheimliches und Befriedigendes zugleich: Sie spiegelten wider, was Madeleine jeden Tag erlebte. Wenn das kleine Volk im Betrieb in Frieden gelassen wurde, dann ging alles seinen Gang, aber sobald es nur eine kleine Störung gab, schien alles aus den Fugen zu geraten. So wie jetzt bei den Ameisen, als sie eine noch glühende Zigarette in die Gasse legte und große Hektik ausbrach. Für wenige Sekunden fühlte sich Madeleine nicht wie eines dieser Zahnrädchen, die einfach nur funktionieren müssen, sondern wie eine dieser Kräfte, die aus den höheren Stockwerken ihrer Firma an den Kolleginnen und Kollegen wie Marionetten zogen.

Der Flaschensammler kehrte noch einmal zurück, sein Shirt von der Wühlerei im Müll über und über mit Flecken bedeckt und vollgesogen mit dem Geruch des Elends der Straße. Er bückte sich nach der noch glimmenden Zigarette und rettete damit das Ameisenvolk vor einem länger anhaltenden Chaos.

“Gott stinkt!” So könnten die Ameisen gedacht haben, wenn sie denn einen Gott hätten, an den sie glauben könnten. Rein theoretisch und jetzt vollkommen philosophisch eingeworfen.

Die Sommersonne verbarg sich kurz hinter einer dunklen, einsamen Wolke am sonst klaren Kaiserwetterhimmel, und Madeleine schnippte die sechste Zigarette in einen der trockenen Büsche hinter Fritzens Bank.

Am nächsten Morgen schimpfte ihr Mann auf dem Weg zur Bahn über die unachtsamen Randgestalten, die sich in den Parks der Stadt herumtrieben und dort mit ihrer Unachtsamkeit in diesen trockenen Tagen für kleine, aber folgenreiche Brände sorgten, bei denen dann auch noch an ehrenwerte Bürger erinnernde Sitzmöbel in Flammen aufgingen. Zum Glück hatte die Polizei den Verantwortlichen gefasst, und er konnte nun sicherlich in einer Zelle über seine Taten nachdenken.

Madeleine sah aus dem Fenster des Familienkleinwagens, schmeckte die letzte Zigarette des Vortags auf ihrer Zunge und dachte an das sicherlich verbrannte Ameisenvolk und beneidete den Obdachlosen um seine Freiheit, die er sicherlich bald wiedererlangen würde, während sie weiterhin hinter verschlossenen Autotüren, die von einem Duftbaum Zitrone geschwängerte Luft einatmen musste.

Den Kurzgeschichtenband “Gott stinkt” gibt es bei Amazon als e-book.

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